Kristin glaubte an die Gravitationsgesetze, an den Durchbruch der Quantenfeldtheorie, meinetwegen auch an dunkele Materie und die Krümmung von Raum und Zeit. Das, was sie dagegen in den letzten Stunden von Maus und Viktoria gehört hatte, war verglichen damit absurd. Nein, es wäre absurd gewesen, wenn nicht trotzdem so vieles dafür gesprochen hätte. Das Lichtvolk der Alben. Ein steinalter Verwandlungszauber. Ein mystischer Krieg, der noch immer andauerte. Die Anderswelt. Aber halt! An dieser Stelle hatte Kristin nun aber wirklich Bauchschmerzen. Denn was bitte sollte das sein? Rein wissenschaftlich betrachtet. Eine der zusätzlichen Dimensionen, von der die Superstring-Theorie ausgeht? Eine, die sich den Menschen bisher nur noch nicht erschlossen hatte, weil sie nicht wahrnehmbar war? Oder sogar ein waschechtes Paralleluniversum? Kristin kannte natürlich die „Viele-Welten-Interpretation“ der Quantenmechanik. Sie sagte aus, dass alle möglichen Vergangenheiten und Zukünfte ein real existierendes Universum darstellten. Die Star-Trek-Macher hatten sich aus dieser Theorie mehr als einmal bedient. Hatten die Alben ernsthaft den Zugang zu einer parallelen Welt entdeckt?
Unmöglich! Das waren wilde Fantastereien, mit denen Kristins bodenständiger Geist noch nie etwas hatte anfangen können.
Nein, es gab eine Erklärung für die Anderswelt, wie für alles andere auch. Vielleicht eine, die dem, was Kristin passiert war, sogar einen Sinn geben konnte.
Vor weniger als zwei Jahren war sie noch ein normaler Mensch gewesen, hatte einen vernünftig bezahlten Job an der Technischen Universität, eine Mitgliedschaft im Fitness-Klub um die Ecke und Karl, von dem sie damals noch geglaubt hatte, sie würde ihn sehr bald heiraten. Karl war inzwischen Geschichte, ebenso wie alles andere in ihrem Leben. Jetzt hatte sie spitze Ohren, helle Augen, konnte rennen wie eine Gazelle und stand unter Terror-Generalverdacht. Das vorsichtige Misstrauen, mit dem die Normalos anfangs den Mutanten begegnet waren, hatte Kristin ja noch einigermaßen nachvollziehen können. Jetzt allerdings taten alle so, als hätte jedes Spitzohr höchstpersönlich die Bombe in Frankfurt gezündet - oder was auch immer das war, was die halbe Innenstadt in Schutt und Asche gelegt hatte. Dabei war Kristin seit 15 Jahren nicht mehr in Frankfurt gewesen. Sie interessierte sich für Umlaufbahnen, Raketenstarts, Schwarze Löcher und Neutronen-Sterne. Nicht für Politik und schon gar nicht für Weltverschwörungen. Im Übrigen auch nicht für Fabelwesen. Scheiße. Sie war eines. Eine Albin. Ein Lichtwesen mit angeblich magischen Kräften.
Aber immerhin wusste sie das jetzt. Das war doch etwas, womit man arbeiten konnte. Es half Kristin. Bei Silke allerdings hatte auch das keinen Unterschied gemacht. Ihre Begleiterin war psychisch völlig am Ende. Auch nachdem Maus und Viktoria mit ihren Erläuterungen fertig waren über das Albendasein im Allgemeinen und die Reise in die Anderswelt im Speziellen, hatte das bei der stillen, zierlichen Frau wenig ausgelöst. Nur mit Mühe war sie dazu zu bewegen gewesen, ihr Tuch und ihre Sonnenbrille abzunehmen. Silke war vielleicht mal eine gute Lehrerin gewesen. Jetzt aber fehlte ihr die Sicherheit einer vertrauten Welt. Grübelnd spielte sie immer wieder an ihren dünnen, blonden Haaren herum, massierte die Wangen ihres beinahe kindlich wirkenden Gesichtes, und schien kaum noch zu verfolgen, was um sie herum passierte. Auch die unglaublichste Erkenntnis hatte offenbar keinerlei Bedeutung für sie, solange es keinen Rückwärtsgang gab, der sie in ihr altes Leben brachte. Silke würde trotzdem in die Anderswelt mitkommen. Da war sich Kristin so gut wie sicher. Denn das Schicksal hatte sie zur teilnahmslosen Mitläuferin gemacht. Um mehr zu sein, hatte sie wohl keine Kraft mehr.
Und dass sie in die andere Welt gehen würden, das stand für Kristin fest - trotz Viktorias sicher nett gemeinter Warnung: „Es gibt dort weder Shopping-Zentren noch freies WLAN, dafür zwei Meter große Monster und es wird an allen Ecken und Enden gekämpft. Eigentlich eine ziemlich beschissene Wahl.“
„Aber“, hatte Maus betont und seiner Freundin dabei einen strafenden Blick zugeworfen. „Ihr werdet dort immerhin nicht eingesperrt, nur weil ihr spitze Ohren habt. Alben, die älter sind als das Kolosseum von Rom, werden sich dort um euch kümmern. Und: In der Anderswelt gibt es viele Verwandelte, die Ähnliches mitgemacht haben wie ihr.“
„Es ist allein eure Entscheidung“, hatte Viktoria ergänzt. „Ich würde es jedenfalls machen, wenn ich eine Albin wäre.“
Gute Argumente, fand Kristin. Vor allem der Aspekt mit dem Nicht-Eingesperrt-Werden gefiel ihr. Außerdem war sie neugierig. Eine fremde Welt, von der Wissenschaft noch völlig unerforscht? War es nicht das, wofür sie vor langer Zeit Astrophysikerin geworden war? Was hatte sie also schon zu verlieren?
Im Moment allerdings sah es hier so gar nicht nach Abenteuer aus. Maus und Viktoria hatten sie in den Münchner Norden gebracht. Jetzt stapften sie mitten in der Nacht durch das finstere Dickicht der Isar-Auen, stolperten über Wurzeln, passierten stinkende Ecken, in denen sich Besoffene offenbar erleichtert hatten. Und dann, nach einer gefühlten Ewigkeit verkündete Maus plötzlich: „Wir sind da.“
„Wir sind ... wo?“, blaffte Kristin genervt zurück und zupfte sich den bescheuerten Turban zurecht, unter dem sie ihre Ohren wieder einmal versteckte. War sie vielleicht am Ende doch einem durchgeknallten Sektarier auf den Leim gegangen? Alben. Die Anderswelt. Wie angenehm wissenschaftlich war es dagegen, ein Mutant zu sein. Aber dann passierte etwas, das ihre Zweifel auf Schlag in Luft auflöste.
Vor ihnen an einer lichten Stelle brannte sich auf einmal ein grelles Kreuz in die Dunkelheit, als würden zwei unsichtbare Jedi-Ritter ihre Lichtschwerter kreuzen. Aus der Mitte löste sich gleich darauf eine weitere Linie aus brennendem Licht, bewegte sich stetig auf den Boden zu. Dort angekommen, teilte sich die Linie, driftete auseinander, öffnete sich zu einem bestimmt drei Meter hohen Lichtkreis, in dessen Innerem nun eine blutrote, undurchsichtige Nebelwolke waberte. Kristin hatte keine Ahnung, mit was zum Teufel sie es hier zu tun hatte. Nur in einem Punkt war sie sich sicher: Feuerwerk war das nicht.
Silke schrie neben ihr auf, als sich aus der Waberwolke eine Gestalt löste. Sie war plötzlich da. Einfach so. Ohne sich auch nur einen feuchten Dreck um die Gesetzmäßigkeiten der Physik zu scheren. Die Gestalt war ein Verwandelter. Ein Mann. Um die 30 vielleicht. Schlank, gut aussehend, hellgraue Augen. Sein Blick hatte etwas, das ihr gefiel. Irgendwas zwischen Gentleman und Haudegen. Er lächelte und strahlte dabei erfrischend viel Sicherheit aus. Kristin mochte ihn sofort.
„Hi. Ich bin Ben“, stellte er sich vor. „Habt ihr Lust auf eine richtig abgefahrene Reise?“
Silke stöhnte leise auf und Kristin befürchtete, dass sie gleich kollabieren würde.
Immerhin zwei, dachte Ben. Er wusste, wie schwer es Viktoria und Maus inzwischen hatten, Verwandelte zu finden. Solche, die noch nicht in „Untersuchungshaft“ saßen, auf Schritt und Tritt überwacht wurden oder bereit waren, ihr vermeintlich sicheres Versteck zu verlassen. Immerhin zwei. Wobei eine davon eher so aussah, als würde sie sich lieber unter einem Stein verkriechen, als mit ihm in die Anderswelt zu kommen. Aber dazu war es jetzt wohl zu spät.
„Es sieht schlimmer aus, als es ist“, sagte er, um die zitternde, blasse Frau zu beruhigen. „Ein bisschen wie Achterbahn vielleicht.“ Es funktionierte nicht.
„Silke wird mitkommen“, sagte die andere Frau. „Sie hat Angst, aber sie kommt mit. Für sie ist alles besser, als alleine gelassen zu werden.“
Ben nickte. Er wusste, wie es sich anfühlte, von einem Tag auf den anderen kein Mensch mehr zu sein. Er hatte das alles selbst durchgemacht. Sein Glück war damals allerdings gewesen, dass er das Menschsein ohnehin reichlich sattgehabt hatte. Das machte einen Unterschied, denn mit der Verwandlung hatte sich sein Leben nicht wirklich verschlechtert. Im Gegenteil.
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