LUNATA
Die Hauptmannstochter
Die Hauptmannstochter
Roman
© 1836 Alexander Puschkin
Originaltitel Kapitanskaja dočka
Aus dem Russischen von Friedrich Scharfenberg
Umschlagbild: Franz Josef Dobiaschofsky
© Lunata Berlin 2020
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Über den Autor
Der Ehre entgegen von Jugend an
Erstes Kapitel
Der Sergeant der Garde
Wär' in der Garde morgen Hauptmann schon ...
»Das tut nicht not: Soll in der Front nur stehen« ...
Ist recht gesprochen: Mag es so geschehen ...
Doch wer sein Vater?
Kujaschnin
Mein Vater Andrej Petrowitsch Grinjow hatte in seiner Jugend unter dem Grafen Münnich gedient und nahm im Jahre 17.. seinen Abschied als Major I. Klasse. Seit jener Zeit lebte er in seinem Dorfe im Gouvernement Simbirsk, wo er dann auch die Jungfrau Awdotja Wassiljewna J. heiratete, die Tochter eines dortigen armen Edelmannes. Wir waren neun Geschwister. Meine Brüder und Schwestern starben schon in ihrer Kindheit. Ich wurde schon früh dem Semjonowschen Regimente als Sergeant zugezählt, welche Auszeichnung ich dem Gardemajor und Fürsten B., einem nahen Verwandten zu verdanken hatte. Bis zur Beendigung meiner Erziehung galt ich als beurlaubt. Damals wurden wir nicht so erzogen, wie es heute geschieht. Mit fünf Jahren wurde ich dem Leibjäger Saweljitsch übergeben, der seines nüchternen Betragens wegen zu meinem Erzieher ernannt wurde. Unter seiner Aufsicht lernte ich in meinem zwölften Jahre ein wenig Russisch lesen und konnte äußerst vernünftig über die Eigenschaften von Jagdhunden reden. Zu dieser Zeit engagierte mein Vater einen Franzosen für mich, Monsieur Beaupré, den man aus Moskau mitsamt dem jährlichen Vorrat an Wein und Provenceröl verschrieb. Sein Kommen gefiel dem Saweljitsch durchaus nicht.
»Nun Gott sei Dank,« murmelte er für sich: »ich glaube das Kind ist doch gewaschen, gekämmt und gefüttert. Muß man denn wirklich unnütz Geld ausgeben, um einen Musje zu engagieren, als ob man keine eigenen Leute mehr hätte!«
In seiner Heimat war Beaupré Coiffeur gewesen, in Preußen Soldat und kam dann nach Rußland pour être outschitel 1, obwohl er die Bedeutung dieses Wortes nicht sehr gut begriff. Er war ein guter Kerl, aber hochgradig leichtsinnig und liederlich. Seine vornehmste Schwäche war die Leidenschaft zum schönen Geschlecht; aber nicht selten kam es vor, daß er für seine Liebkosungen nur Rippenstöße erntete, die ihn zuweilen ganze Tage ächzen ließen. Außerdem war er, wie er selber sagte, kein Feind der Flasche , d. h. um's anders auszudrücken, er trank lieber zu viel als zu wenig. Doch da Wein bei uns nur zum Diner gereicht wurde, und auch da nur in kleinen Gläsern, und man den Lehrer meistens überging, so gewöhnte sich mein Beaupré sehr schnell an die russischen Schnäpse und zog sie sogar den Weinen seiner Heimat vor, da sie auf den Magen so außerordentlich wohltätig wirkten. Wir beide gewöhnten uns schnell aneinander und trotzdem er sich kontraktlich verpflichtet hatte, mich Französisch, Deutsch und überhaupt alle Wissenschaften zu lehren, zog er es doch vor, von mir ein wenig Russisch plaudern zu lernen, worauf ein jeder von uns sich mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigte. Wir lebten wie ein Herz und eine Seele. Ich wünschte mir gar keinen andern Mentor. Doch bald schon trennte uns das Schicksal, und das geschah folgendermaßen:
Ein dickes und pockennarbiges Mädchen, die Wäscherin Palaschka, und die schiefe Kuhmagd Akulka schienen sich irgendwie verabredet zu haben, meiner Mutter zu gleicher Zeit zu Füßen zu fallen, ziehen sich sündiger Schwäche und gestanden mit Tränen, daß es der Musje wäre, der ihre Unerfahrenheit überlistet hätte. Meine Mutter verstand keinen Scherz in solchen Dingen und teilte es dem Vater mit. Der machte kurzen Prozeß. Er ließ augenblicklich nach der Kanaille von Franzosen rufen. Man meldete ihm, daß Musje mir eine Stunde erteile. Der Vater kam in mein Zimmer. Beaupré schlief gerade auf meinem Bette den Schlaf der Unschuld. Ich meinerseits war beschäftigt. Man muß wissen, daß für mich eine geographische Karte aus Moskau verschrieben worden war. Sie hing unbenutzt an der Wand, allein lange schon führte mich die Breite und Güte des Papiers in Versuchung. Ich hatte den Entschluß gefaßt, aus ihr einen Drachen zu bauen und da Beaupré schlief, machte ich mich an die Arbeit. Mein Vater trat in dem Augenblick in das Zimmer, als ich einen Bastschwanz an das Kap der guten Hoffnung heftete. Da er meine eifrigen Bemühungen in der Geographie bemerkte, fand er es für nötig, mich am Ohr zu ziehen, eilte dann zu Beaupré, weckte ihn sehr unvorsichtiger Weise und überschüttete ihn mit Vorwürfen. In seiner Verwirrung wollte Beaupré eigentlich aufstehen, aber er konnte es nicht: der unglückliche Franzose war total betrunken. Sieben Sünden eine Antwort. Mein Vater zerrte ihn am Kragen aus dem Bett, stieß ihn zur Tür hinaus und noch am selben Tage wurde er aus dem Hause gejagt, zur unbeschreiblichen Freude Saweljitschs! Damit war meine Erziehung beendet.
Ich lebte wie ein rechter Landjunker, war hinter den Tauben her und spielte mit den Kindern des Gutsgesindes. Unterdessen war ich schon sechzehn Jahre alt geworden. Da trat eine Veränderung in meinem Leben ein.
Einmal im Herbst braute meine Mutter im Gastzimmer ein Getränk aus Honig, ich schaute auf den kühlenden Schaum und leckte mir die Lippen ab. Der Vater las am Fenster den »Hofkalender«, den er jährlich erhielt. Dieses Buch übte immer einen mächtigen Einfluß auf ihn aus: niemals noch hatte er es ohne besondere Hingabe gelesen und die Lektüre brachte seine Galle in seltsame Erregung. Meine Mutter, die alle seine Gewohnheiten und Grillen so gut kannte, war immer bemüht, das unglückselige Buch irgendwo, möglichst weit weg zu verstecken und auf diese Weise kam ihm der »Hofkalender« oft ganze Monate lang nicht unter die Augen. Wenn er ihn dann aber zufällig fand, ließ er ihn gewöhnlich lange Stunden nicht aus seinen Händen. Also mein Vater las den »Hofkalender«, las, zuckte zuweilen mit den Achseln und wiederholte mit halber Stimme: »Generalleutnant! ... Er war in meiner Kompanie Sergeant! ... Ritter beider russischer Orden! ... Sind wir denn schon so weit? ...« Dann endlich schleuderte mein Vater den Kalender aufs Sofa und versank in Nachdenklichkeit, die nichts Gutes verhieß.
Plötzlich wandte er sich an die Mutter:
»Awdotja Wassiljewna, wie alt kann wohl Peter sein?«
»Ja, er ist jetzt im siebzehnten Jahr,« antwortete die Mutter: »Peter ist in demselben Jahre geboren, als die Tante Nastasia Gerasimowna lahm wurde und damals war es auch, daß ...«
»Ja, ja,« unterbrach sie der Vater: »nun ist es für ihn Zeit, in den Dienst zu treten. Schon viel zu viel hat er sich in den Mädchenkammern herumgetrieben und den Tauben nachgestellt.«
Der Gedanke an eine Trennung von mir, die schon so bald stattfinden sollte, berührte meine Mutter so heftig, daß sie den Löffel in die Kasserolle fallen ließ und Tränen ihr Gesicht überströmten. Mein Jubel jedoch wäre schwer zu schildern. Der Gedanke an den Dienst verschmolz in mir mit dem Gedanken an Freiheit und an die vielen Vergnügungen des Petersburger Lebens. Ich sah mich schon als Offizier in der Garde, und das war, wie ich damals glaubte, der Gipfel irdischer Seligkeit.
Mein Vater liebte es weder seine Pläne zu ändern, noch deren Ausführung zu verschieben. Der Tag meiner Abreise wurde bestimmt. An dem ihm vorhergehenden Abend erklärte mein Vater, daß er beschlossen habe, meinem zukünftigen Kommandanten über mich zu schreiben und verlangte Feder und Papier.
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