Mit leicht zusammengekniffenen Augen fragte der Kapitän:
„Wie war die Teleportation?“
Einstimmig und munter erwiderten die jungen Leute:
„Ausgezeichnet, Kapitän, wir können gleich loslegen.“
Der Kapitän entgegnete:
„Nein-nein, wir müssen uns an die Regeln halten. Das gesamte innere System eures Organismus gewöhnt sich momentan an die neue Umgebung, dabei sollten wir es nicht stören. ALL, öffne das Frontpanorama für uns.“
In Sekundenbruchteilen verwandelte sich die matte Wand hinter dem Kapitän in ein riesiges Fenster mit Aussicht in den Weltraum. Eigentlich konnte man gar nicht von einem Fenster sprechen, denn es gab keinerlei Barrieren. Man gewann den Eindruck, man sei Teil eines riesigen, grenzenlosen Raumes – ein Zustand, der gleichzeitig Angst, Freude und Entzücken hervorruft und sich kaum beschreiben lässt. Der Kapitän schlug vor, näher an den Rand zu treten. Kostja und Samantha, die schon mehr als sechs Monate auf der ISS verbracht hatten, verschlug es in Anbetracht einer solchen Schönheit genauso die Sprache wie den Neuen, denen beinahe die Beine versagten. Der Kapitän bemerkte natürlich, dass alle völlig verblüfft waren – er ließ ihnen etwas Zeit, lächelte und trat langsam auf das Panorama zu.
Einer der Studenten fragte:
„Ist das kein Hologramm?“
Der Kapitän antwortete:
„Nein, das ist eine unverzerrte Direktansicht. Unsere Station ist im Bereich wissenschaftlich-technischer Perfektion zu Außergewöhnlichem fähig. Viele Technologien lassen sich auf der Erde einfach nicht anwenden, aber hier laufen sie völlig reibungslos. In gewissem Sinne führt jedes noch so kleine Element der Auskleidung der ISS sowohl innen als auch außen ein Eigenleben. Und ALL kontrolliert sie alle, er kann über 100.000 Programmbezeichnungen sowohl einzeln als auch gemeinsam transformieren. Falls es uns gelingt, jenseits unseres Sonnensystems Retranslatoren als Tageslichtbeschleuniger einzurichten, kann ALL die Station an jeden Punkt der Galaxie befördern. Das ist die Zukunft, dann muss keiner mehr Raumschiffe bauen.“
Die Studenten standen da und hörten dem Kapitän mit offenem Mund zu. Schließlich bedankten sie sich für den interessanten Bericht und meinten, zeit ihres Lebens noch nichts Derartiges erlebt zu haben.
Der Kapitän setzte ein breites, natürliches Lächeln auf, welches man bei älteren Personen häufig dann sieht, wenn sie kleine Kinder mit einem trockenen Streich hinters Licht geführt haben.
Dann sagte er:
„Und jetzt ruht euch aus.“
Kostja erwiderte:
„Aber Kapitän, wir müssen ihnen noch das Laborgebäude zeigen.“
Der Kapitän antwortete:
„Aber nur ganz kurz, überfordert die Jungs nicht.“
Kostja, Samantha und die Studenten bedankten sich beim Kapitän und gingen dorthin zurück, von wo sie gekommen waren. Der Ausgang tat sich genau dort auf, wo sich die Plattform befand. Nun war allen klar, dass ALL jeden Teil der ISS und jede Zwischenwand der Modulverbindungen öffnen und verschließen konnte.
Samantha nahm über das interne Kommunikationssystem flüsternd Kontakt zu Julia auf und erzählte ihr von der Steuerungszentrale und dem breiten Panoramafenster mit Aussicht in den offenen Weltraum. Sie erklärte ihr, dass ein solcher Eindruck mit nichts zu vergleichen sei und dass kein Bordfenster einen solchen Anblick biete.
Samantha fragte:
„Warst du schon zu Gast beim Kapitän?“
Julia antwortete:
„Ja, aber das Panorama hat er mir nicht gezeigt. Wir haben uns über Musik unterhalten, anscheinend spielt er Querflöte, das hat mich sehr beeindruckt.“
Noch bevor sie zu Ende gesprochen hatte, machte die Plattform vor einem riesigen Modul namens „Laborgebäude“ Halt. Dieses stellt einen großen Organismus dar, in dem eine Vielzahl von Mikrorobotern für verschiedene Arbeitsabläufe verantwortlich sind. Sie befördern Objekte und Gegenstände zwischen einzelnen Geräten hin und her und führen komplizierte chemische Reaktionen durch. Jeder Quadratzentimeter der Laboroberfläche weist einen Wirkungsgrad von 100 % auf. Direkt unter der Kuppel dieses Raumes befindet sich ein ovalförmiges Zimmer, in das man über eine spezielle Rolltreppe gelangt. Dort angekommen, waren die Studenten nicht weniger verblüfft als im Deckhaus des Kapitäns.
Kostja sprach:
„Hier könnt ihr sämtliche Arbeitsabläufe und jeden einzelnen Untersuchungsvorgang verfolgen.“
Die Studenten fragten:
„Also nach unten schauen und beobachten, was die Roboter machen?“
Samantha reagierte als Erste:
„ALL, aktiviere das Klassifikationsschema.“
Sofort wurde eine vertikal entlang der Zimmerwände verlaufende Schautafel mit Tabellen sichtbar, auf der die gegenwärtigen Maßnahmen, aktiven Prozesse und eine Vielzahl weiterer, den jungen Spezialisten bisher unbekannter Bezeichnungen abgebildet waren.
Kostja fuhr fort:
„All das wird von ALL kontrolliert, allerdings solltet auch ihr wissen, wie und was hier vor sich geht, daher dient eure Anfangszeit im Labormodul der Adaptation. Euer persönlicher Kommunikator erzählt und zeigt euch alles en détail. Und natürlich sind Samantha und ich ebenfalls für euch da.“
Die Erschöpfung in den Gesichtern der jungen Leute war kaum zu übersehen, daher bot Samantha ihnen an, sie zu ihren Appartements zu bringen. Sie wollte sich selbst davon überzeugen, dass die persönlichen Räumlichkeiten bei allen in Ordnung waren.
Theorie und Praxis gehen Hand in Hand.
Zu jener Zeit hatte Michael bereits beschlossen, auf Grundlage der neuen Daten weitere Untersuchungen und Planungsschritte durchzuführen. Es galt herauszufinden, inwieweit man sich auf diese Daten verlassen konnte. Die Entdeckung neuer Mikroorganismen, ihre Wechselwirkung mit dem gesamten Ökosystem der Erdoberfläche und ihr Einfluss auf bestimmte Arten hatten zu einem veränderten Bild geführt. Es gab so viele Fragen, dass Michael allen über das interne Sprechsystem vorschlug, sich nach dem Abendessen im Konferenzsaal zu treffen und genauer zu besprechen, inwiefern die neuen Umstände eine Änderung der Gesamtausrichtung der Untersuchung nach sich zogen. Dabei wusste er, dass man nicht immer im Freundeskreis zu Abend essen konnte – wenn die einen mit der Arbeit fertig waren, benötigten die anderen noch etwas Zeit. Heute wusste er jedoch, dass sich alle beizeiten versammeln würden, denn nur selten trafen neue Informationen ein, die das Potential hatten, die gesamte Untersuchung auf den Kopf zu stellen. Wenn irgendetwas fehlte, drehte sich die Gruppe meist lange im Kreis und es gelang nur mit Mühe, eine Untersuchungsstrategie zu entwerfen. Julia und Habib nahmen zum wiederholten Male eine Prüfung aller bis dato bekannten pathogenen Mikroorganismen vor, die zur Regeneration der Erdkruste fähig waren. Die Gründe ihres Verschwindens sind allseits bekannt, und auch ihre Wechselwirkung mit anderen Stoffen wurde bereits erforscht – so sind Mikroorganismen, die neben Stickstoff-, Kohlenstoff- und Schwefelverbindungen auch viele weitere Verbindungen verarbeiten und an die Böden abgeben können, ein entscheidender Faktor für deren Fruchtbarkeit.
Kostja und Samantha testeten die Existenzfähigkeit sämtlicher Arten unter veränderten Bedingungen. Aufgrund ihrer äußerst kurzen Lebensdauer und ihrer hohen Sensibilität verändern diese jedoch augenblicklich ihre Form und verwandeln sich in Toxine und Mikrotoxine, wodurch sich keine stabilen Ergebnisse erzielen lassen. Die wesentliche Frage bestand stets darin, wie sie entstanden, was zu ihrer Entstehung beitrug, was den Transformationsprozess beziehungsweise die Emigration der Mikroorganismen bedingte und wie man die Steuerung dieses Prozesses erlernen konnte. Eines war nämlich klar: In dieser Kette fehlte etwas. Man hatte zwar gelernt, die Erde zugrunde zu richten, ihre Lebenskräfte wiederherzustellen jedoch nicht.
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