Als sich alle bereits vom Tisch erheben wollten, bat Kostja um kurze Aufmerksamkeit:
„Mir ist morgens eine Nachricht von den Geodäsisten ins Auge gefallen, hört mal kurz zu. Von der Station für übertiefe Bohrung wurden vollkommen neuartige Verbindungen unbekannter Mikroorganismen entdeckt. Früher war man davon ausgegangen, dass es in solcher Tiefe kein Leben geben kann.“
Kostjas Mitteilung rief bei allen Interesse hervor, und man beschloss, eine Anfrage nach sämtlichen Informationen über diesen Fund zu stellen. Jeder begab sich an seinen Platz, doch der Gedanke an neue Mikroorganismen ließ niemanden gleichgültig. Diese Neuigkeit hatte das Potential, die Untersuchungen in eine ganz andere Richtung zu lenken.
Michael begab sich in seine persönliche Kabine, die ihm als Büro mit Arbeitstisch diente, und sandte eine Anfrage an ALL, nachdem er zuvor mit ihm über dieses Thema gesprochen und darum gebeten hatte, Informationen über sämtliche Proben der übertiefen Bohrung einzuholen.
Um sich ein allgemeines Bild von der Geodäsie machen zu können, muss man über alle mehr oder weniger erfolgreich durchgeführten Bohrungsarbeiten der übertiefen Bohrstationen Bescheid wissen. ALL teilte mit, dass solche Bohrungen aufgrund fehlender kaufmännischer Interessen äußerst selten durchgeführt würden, da man davon ausgehe, dass es jenseits des Oberen Mantels nichts gebe, was sich verarbeiten und produzieren lasse. Mit anderen Worten: Eine betriebswirtschaftliche Grundlage sei nicht gegeben. Die geologische Forschungsabteilung weise in ihrer Bilanz jedoch eine experimentelle Gruppe aus, die eine spezielle Technik entwickelt habe – autonome Roboter, die in der Lage seien, derartige Arbeiten durchzuführen. Die Testmodelle hätten einen ausgezeichneten Eindruck hinterlassen. Der Kombiroboter könne an jeder beliebigen Stelle landen und die notwendigen Arbeiten auch unter Wasser durchführen.
Von dieser Gruppe seien schon viele Arbeiten durchgeführt worden, momentan finde die operative Wassersuche dort statt, wo solches noch nie vorhanden gewesen sei, da das Grundwasser stets in zu großer Tiefe gelegen habe. Dadurch ließen sich mehrere Hunderttausend Menschen vor der Dehydrierung des Organismus retten. Michael meinte: „Die sind echte Helden“, während ALL die weiteren Verdienste der Gruppe aufzählte.
Daraufhin erwiderte Michael:
„Bitte schick alles, was du darüber weißt, zu mir ins Büro, ich muss mir ein detailliertes Bild davon verschaffen.“
Die Mannschaft erhält Zuwachs.
In der Zwischenzeit trafen Kostja und Samantha sich mit den Neuankömmlingen. Treffen dieser Art finden normalerweise in der Haupthalle statt, in der sich alle Bewohner der ISS in ihrer Freizeit treffen. Dann geht es zu wie auf einer Party, auf der die Leute tanzen oder einfach Spaß haben. Eine lebhafte Diskussion ist durch nichts zu ersetzen – sie ist wie eine Gruppentherapie, bei der jeder jeden heilt. Der Saal wird auch für Telekonferenzen verwendet, wobei ALL bei den beteiligten Forschungsgruppen von der Erde den Eindruck erweckt, sie seien bei wichtigen wissenschaftlichen Gesprächen unmittelbar vor Ort. Auf der Erde kam diese Methode endgültig zum Durchbruch, als den Menschen klar wurde, dass es sinnlos war, sich voreinander zu verstecken, geheime Untersuchungen durchzuführen und Errungenschaften zu verheimlichen. Dies führt nicht zur Weiterentwicklung der Zivilisation, denn der wissenschaftlich-technische Fortschritt betrifft uns alle und ist lebensnotwendig.
Während sie auf die Halle zuging, fragte Samantha ALL nach den Personalien dreier Studenten, die im Rahmen eines Praktikums im Bereich Weltraumforschung eingetroffen waren. Kostja bat den Kommunikator, ihm die Informationen über die Studenten vorzulesen, und wunderte sich darüber, dass er nur zwei Sätze zu hören bekam: Geschlecht, Alter, Fakultät und Forschungsgebiet. Als sie die Halle betraten, erblickten sie drei junge Personen in eng anliegenden, türkisfarbenen Overalls: zwei Männer und eine junge Frau, die etwa dieselbe, ihrem Alter entsprechende Körpergröße hatten. Kostja hob den Arm und begrüßte seine ergebenen Vasallen wie ein Anführer. Er gab sich jede Mühe, einen steinernen Gesichtsausdruck beizubehalten, konnte ein Lächeln jedoch kaum zurückhalten. Samantha hingegen lächelte offenherzig, streckte ihnen die Hand entgegen und hieß sie mit warmen Worten auf der ISS willkommen. Als sie ihre bleichen Gesichter bemerkte, fragte sie vorsichtig, wie ihnen die Teleportation bekommen sei.
Einmütig erwiderten die Studenten:
„Ganz normal, eigentlich wie immer...“
Damit brachten sie das Eis bei Kostja endgültig zum Schmelzen. Er wäre fast in Lachen ausgebrochen und meinte:
„Jetzt aber mal ehrlich!“
Samantha entgegnete sofort:
„Vergiss nicht, wie es bei dir war.“
Kostja blickte die Neuen an und sagte:
„So etwas vergisst man nicht. Anfangs hätte ich mich selbst kaum erkannt und meinen Organismus auch nicht.“
Samantha meinte:
„Den persönlichen Bereich kennt ihr schon, nun steht die Bekanntschaft mit der Crew an. Die Steuerungstafel ist nämlich direkt nebenan. Danach kommt das Laborgebäude. Alles Weitere erledigen ALL und euer persönlicher Kommunikator. Kostja und ich sind aus der mikrobiologischen Abteilung und helfen euch immer gerne, falls irgendwelche Fragen auftauchen. Und jetzt wartet schon die Plattform an der Transportlinie auf uns. Wahrscheinlich habt ihr die Markierung gesehen, als ihr hierher gelaufen seid.“
Die Studenten nickten einmütig.
„Dem bleibt nur noch hinzuzufügen, dass es auf der ISS zwei Typen gibt: Transportlinien und Passagierlinien. Der Kommunikator sagt euch immer, wie ihr am besten wohin gelangt, und organisiert den Transport.“
Die durchsichtigen Türen öffneten sich, und eine Passagierplattform für sechs Personen kam zum Vorschein. Die Mädchen nahmen auf der einen Seite Platz, die Jungen gegenüber.
Kostja wollte witzig sein und meinte:
„Legt die Gurte an.“
Es regte sich jedoch keiner, da alle wussten, dass dies überflüssig war.
Während des Fluges nimmt man die Geschwindigkeit gar nicht wahr, und der Wind pfeift nicht in den Ohren – ein unbeschreibliches Gefühl, und einen Augenblick später ist man dort, wo man hinwollte.
Die Plattform machte vor einer riesigen Raumanlage Halt, hinter der man außer den gewöhnlichen Lichtreflektoren, die an allen Trennwänden und übrigen Konstruktionen der ISS angebracht sind, keinerlei schützende Kulisse ausmachen konnte. Dies sorgte für Verwunderung bei den Neuankömmlingen, die sich flüsternd darüber austauschten, wie das möglich sei, denn Technologien dieser Art waren noch unerforscht. Ein ganzes Modul kann verschwinden und zusammen mit den anwesenden Personen, Gegenständen und Steuerungssystemen das Aussehen verändern, was die Studenten überraschte.
Kostja meinte:
„ALL, autorisieren Sie den Zutritt zur Zentrale und informieren Sie den Kapitän.“
ALL erwiderte:
„Der Zutritt ist genehmigt, der Kapitän erwartet euch.“
Den verblüfften Studenten erklärte Kostja:
„Diese Technologie ermöglicht es, den unabhängigen Betriebsmodus der Steuerungszentrale aufrechtzuerhalten. Bei Beschädigungen oder in Extremsituationen transformiert ALL die Zentrale in einen sicheren Raum, um das Fortbestehen der Station zu gewährleisten.“
An der Stelle, wo noch eine Sekunde zuvor eine Wand gewesen war, bildete sich ein Durchgang in der Größe einer Doppeltür, durch den alle ungehindert ins Innere des Raumes gelangen konnten. Wie aus dem Nichts tauchte der Kapitän auf und trat auf die Gruppe zu. Er schüttelte allen die Hand und sah sich die Gesichter der jungen Studenten aufmerksam an. Er wusste nur allzu gut, dass die heutigen Studenten schon morgen zu rechtmäßigen Bewohnern der Station werden konnten, mit denen er kooperieren musste.
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