Webers erster Blick beim Betreten des Raumes war auf eine Art große Holzkiste gefallen. Der Deckel des Behältnisses stand offen und dann sah er, dass darin amputierte Gliedmaßen hineingelegt worden waren. Arme, Hände, Beine, Füße. Keine drei Schritte vor ihm war eine in einen schmutzigen und blutbefleckten Kittel gehüllte Gestalt gerade dabei, einem spedierten Mann den linken Arm knapp unterhalb des Schultergelenks abzusägen. Weber schaute und hörte hin. Die Knochensäge wurde von einer erfahrenen Hand benutzt, nach kurzer Zeit war der Arm abgetrennt worden, oberhalb des jetzigen Stumpfes war der verbleibende Rest kräftig abgebunden worden. Der Operateur trat ein Stück zur Seite, und ließ sich offensichtlich erschöpft auf einen alten Holzstuhl fallen. Weber sah, dass zwei andere Ärzte die Blutgefäße des Schwerverletzten versorgten, und nachdem dies mit großer Ruhe erfolgt war, einen Sanitäter heranwinkten, der dem Mann eine wahrscheinlich schon mehrfach verwendete Binde anlegte.
"Sie müssn garni so heldenhaft guggn" sagte der Arzt in breitem Sächsisch zu Weber "dor Gerl gan durchkommt, aber, was wees mer schon. Vielleischd schaffddors, is ja noch ä Bäbie. Ach, so een Scheiss och."
Der Mann rauchte, hielt die Zigarette, obwohl seine Hände voller Blut waren.
"Ich suche einen Kameraden meiner Einheit" sagte Weber "Sturmscharführer Franke. Ist der vielleicht bei Ihnen hier?"
Der Arzt lachte, aber es war eine bösartige Lautäußerung.
"Sturmscharführer .. was? Hammr ni, un kriegn mir ooch nimmer nein. Was ist n Sturmscharfürer? So was wie dor große Fürer, dor Adolf? Is ooch egal, hier wird ordnlisch abgegrazd, s is nisch ma ne Binde da, nüschd is mer da. Jedse is dor Ofn endgüldsch aus, das gönnse mir globn. Un n Fürer Frange geensch ni."
Die die Zigarette haltende Hand des Arztes zitterte.
Weber musste wieder daran denken, dass die Wehrmacht teils jahrelang Aufputschmittel an die Soldaten ausgegeben hatte. Ein Arzt musste noch schneller an solche Sache herankommen können. Dann schämte er sich aber für den Gedanken, dass dieser total erledigte Arzt eventuell ein Suchtprobleme haben könnte.
Er ging in den angrenzenden Raum, dort lagen noch einige lebende Soldaten. Ganz hinten in einer Ecke erkannte er Franke, er schien zu schlafen. Vorsichtig stieg Weber über die Verwundeten hinweg, dann hockte er sich vor seinem Spieß hin.
"Willi" fragte er" wie geht es dir?"
Franke öffnete die Augen ein wenig, dann antwortete er mit schwacher Stimme:
"Nicht gut, Günther. Ich werde wohl in diesem dreckigen und stinkenden Loch hier den Löffel abgeben. Lass gut sein, ich hab´ genug gesehen, und bei mir ist die Kugel durchgegangen und ich weiß, wie groß die Austrittswunden sind. Die haben mir einfach eine schon benutzte Binde drumgewickelt und da muss man nicht viel drüber nachdenken was da an Keimen dran war. Die sind jetzt schon in mir drin, ich hab´ schon hohes Fieber. Das war's für mich. Du musst mir jetzt nicht irgendwas erzählen, dass alles wieder gut werden wird und der Führer uns hier raushaut. Selbst wenn das geplant wäre, bis dahin bin ich tot."
Franke schwieg einen Moment, auch Günther Weber konnte jetzt nichts sagen.
"Hier unten gehen doch tatsächlich Gerüchte um" fuhr Franke fort „dass westlich von Budapest bereits Geschützlärm zu hören wäre. Das kann ja sein, aber der Iwan hat x-Mal mehr Kanonen als wir. Weißt du was davon?"
"Nein. Heute ist der Ausbruchsbefehl gekommen. Ich will dich zur Einheit zurückbringen, wir schaffen dich schon raus."
"Du bist ein guter Mann Günther, die Jungs würden für dich durchs Feuer gehen, weil du immer einer von uns geblieben bist, ein Soldat, kein Sesselfurzer oder Etappenschwein. Und vergiss es, du wirst mich hier nicht mehr rausholen, weil es sinnlos wäre."
Franke musste husten, rötlicher Schaum trat aus seinem Mund aus und lief an beiden Seiten des Gesichts zum Kinn herunter. Der Mann holte mühsam Atem, dann fragte er:
"Günther, ist das alles umsonst gewesen? Unsere vielen Opfer?"
"Willi, wenn ich glauben würde, dass wir das alles umsonst getan hätten müsste ich jetzt nach oben gehen und mich mit meiner MPi auf einen Platz stellen, und mich vom Iwan abschießen lassen. Das werde ich aber nicht tun. Wir haben eine Idee gehabt, dass es einen großen Raum in Europa geben könnte, in dem ein Reich existiert, in dem es keine Grenzen mehr gibt, und in dem eine Sprache gesprochen wird, und zwar die des Siegers, nämlich Deutsch. Wir hätten deutsche Wissenschaft, deren technische Umsetzung unter Nutzung der Ressourcen des eroberten Ostens und der Arbeitskraft der gewonnenen Länder nutzen können, um einen ungeahnten Wohlstand für Jedermann schaffen zu können. Ich glaube, das ist der eigentliche Plan des Führers gewesen. Sicher wäre das eine Sache von Jahrzehnten gewesen, denn das hätte ja in unserem Herrschaftsgebiet bedeutet, nur noch eine Nation zu kennen: nämlich die deutsche. Und weil ich gewusst habe, dass dieser rote Diktator Stalin Menschen hat verhungern lassen, bin ich zur SS gegangen. Weil ich eben auch diesem Volk wieder Freiheit verschaffen wollte. Ja, das ist mein Grundgedanke gewesen. Ich hätte mich vielleicht mit meinem Spitzenabiturzeugnis in eine geheime Stelle für Kryptologie schön sicher absetzen können. Verschlüsselungstechniken haben mich schon immer gereizt. Na gut, das gehört jetzt nicht hierher. Jedenfalls habe ich mir das Reich nach dem Krieg schon gut vorstellen können. Aber wir haben Fehler gemacht, unverständliche Fehler. Nicht du und ich, die Führung. Wir wurden in den westlichen Teilen des Roten Reichs als Befreier von Stalin begrüßt. Was ist passiert? Wir haben die Bevölkerung dort terrorisiert, schäbig und herablassend behandelt, sie hungern lassen und etliche umgebracht. Man hätte nur einen einzigen Aufruf ausgeben müssen, und hunderttausende Ukrainer wären mit uns zusammen auf Moskau marschiert und hätten den roten Zaren vom Thron gestoßen und aufgehängt. So viel ist falsch gemacht worden, so überheblich sind wir gewesen, und jetzt trifft uns ein eigentlich gerechter Zorn. Wahrscheinlich wissen wir auch gar nicht, ob unsere Soldatenehre nicht durch irgendwelche Schweine befleckt worden ist. Mittlerweile kann ich mir das aber schon vorstellen."
Weber sah Franke an.
Der Mann war schon kreidebleich, aber er schien zu lächeln.
"Hau ab, Günther, so lange noch Zeit ist. So lange hab ich dich noch nie an einem Stück quatschen hören. Du kannst mir noch einen Gefallen tun. Nimm meinen Ehering und versuch nach dem Krieg meine Frau zu finden. Und jetzt geh."
Günther Weber steckte den Ring in die Brusttasche seiner Uniformjacke, stand auf und ging weg, ohne sich noch einmal umzudrehen. Franke würde noch ein paar Stunden leben, dann kam die Zeit des Wundbrands, und Weber hatte erfahren und auch nachgelesen, dass das hohe Fieber die Betroffenen dann relativ gnädig von der Welt verabschiedete. Er war an die schlimmen Zustände im Krieg ja schon lange gewöhnt, aber dass die Verwundeten mit schon benutztem Verbandszeug versorgt werden mussten, welches man den Verstorbenen vorher abgenommen hatte zeigte, wie aussichtslos die Lage mittlerweile war. Weber geriet nicht leicht in Panik, dazu war er viel zu selbstbeherrscht. Aber er hatte als guter Mathematiker einen Blick auf die Möglichkeiten der Kontrahenten.
Er stellte sich die gesamte Lage, obwohl er ja nur einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit sehen konnte, als Schachaufgabe vor. Deutsch hatte Schwarz, der Gegner Weiß. Auf der schwarzen Seite fehlten bereits die Türme und einer der Läufer, ein Springer stand noch bereit, im Vorfeld waren zum Schutz der Dame und des Königs nur noch vier der ehemals acht in den Kampf ausgezogenen Bauern vorhanden. Jetzt hatten sich die verbliebenen vier auf die zweite Linie des Schachbretts zurückziehen müssen. Zu Beginn der Partie waren die Bauern unaufhaltsam durch die Reihen der Gegner marschiert, flankiert von den Türmen, den Springern, den Läufern, und im Hintergrund, auf der ersten waagerechten Linie der schwarzen Seite, hatte der König mit Unterstützung der Königin ihnen die Befehle gegeben, und sie vorwärtsgetrieben. Als die Bauern kurz vor dem weißen König gestanden hatten war dieser nicht etwa geflohen, sondern hatte aggressiv auf das Schachmatt reagiert. Er hatte also viele seiner eigenen Figuren, vor allem Bauern, vor sich in die Verteidigungslinie befohlen, wohl wissend, dass diese hoffnungslos verloren waren, aber das war ihm als Herrscher und Entscheider über Leben oder Tod vollkommen egal gewesen. Die schon immer geknechteten Bauern der weißen Seite waren willige Untertanen und zum Sterben für das Überleben des Herrschers bereit. Für sie war er der neue Heiland, nunmehr mit einem roten Umhang bekleidet, der nicht mehr das Paradies, aber den gleichen bescheidenen Wohlstand für alle versprach. Die Bauern fielen durch die Schwarzen wie die Ähren durch die Sense, aber sie düngten einen Boden und legten Samen, aus denen Stolz, Mut und ein unbeugsamer Wille erwuchs, sich der schwarzen Seite niemals zu ergeben.
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