Ja, ich hatte schon die ganze Zeit gespürt, dass etwas nicht stimmte.
»Dürfen wir hereinkommen?«, fragte die Polizistin vorsichtig und machte trotzdem gleichzeitig einen Schritt auf mich zu.
Ich nickte wieder. »Wie ist es passiert?«
Der Officer legte den Kopf ein bisschen schief. »Sie wollten fragen, was passiert ist, oder?«, fragte er.
»Es ist etwas Schreckliches passiert und es ist etwa eine Stunde her«, sagte ich leise.
»Ihr Mann hatte vor etwa einer Stunde einen Unfall, das stimmt«, erklärte mir die Polizistin und legte mir einen Arm auf die Schulter. »Er liegt im Densewood County.«
Ich schluckte trocken.
»Haben Sie jemanden, der Sie dorthin begleiten kann?«, fragte sie und sah mich besorgt an.
Ich atmete tief aus und fing an zu weinen. Wahrscheinlich, weil ich so erleichtert darüber war, dass Brian lebte.
Die Polizistin sah mich immer noch an. »Haben Sie mich verstanden, Mrs. Heart? Gibt es jemanden, der Sie ins Densewood County Hospital bringen kann?«
Ich zuckte mit den Schultern und schluchzte. »Meine Nachbarn. Vielleicht. Ich meine, ich muss erst …« Die Tränen liefen nur so über meine Wangen, ich wischte sie weg.
»Ich übernehme das für Sie, wenn es Ihnen recht ist«, sagte der Polizist.
»Nein… ich kann sie immer fragen … und um alles bitten, … das ist schon in Ordnung«, stammelte ich ohne Punkt und Komma.
»Sie warten hier mit meiner Kollegin«, schaltete sich der Officer ein. Ich schicke Ihnen gleich Ihre Nachbarn rüber, okay?«
Ich nickte matt und vergrub mein Gesicht in den Händen.
Keine zwei Minuten später standen Alice und Shawn in meiner Küche und fielen mir nacheinander um den Hals.
»Liebes, wir bringen dich hin, das ist doch keine Frage«, sagte Alice und ließ mich nicht mehr los, bis wir im Auto saßen.
Ich hatte keine Ahnung, was ich denken sollte, ich wusste nur, dass mir schon wieder speiübel war und dass diese Autofahrt das Problem garantiert nicht verbessern würde. Im Gegenteil, es wurde mit jeder Kurve schlimmer, obwohl Shawn nicht wie Jenson Button durch die Kurven heizte.
»Shawn, könntest du bitte kurz anhalten?«, fragte ich und er sah mich über den Rückspiegel an.
»Klar, … gleich da vorne. Schaffst du’s noch?« Er klang mehr als besorgt.
Als der Wagen stand, riss ich nur noch die Tür auf und übergab mich nahezu zeitgleich.
Alice blieb sitzen. Es war Shawn, der ausstieg, um das Auto herumging und mir ein Taschentuch gab.
»Geht’s wieder?«, fragte er leise und ich sah, dass ihm seine Frau einen strafenden Blick zuwarf.
Ich wusste ja, dass Alice bei zu schnellen Autofahrten auf so kurvigen Strecken auch schlecht wurde, deswegen saß sie vorne und nicht ich. Aber meine Schwangerschaft vereinfachte die Sache jetzt nicht gerade.
»Möchtest du fahren?«, fragte er mich.
Ich blickte ihn entsetzt an. »Nein!«
»Dann wärst du ein bisschen abgelenkt, meinst du nicht? Es ist nicht mehr weit. Drei Meilen oder so. Ich rase euch beiden ja doch zu sehr.«
Ich warf Alice, die inzwischen das Fenster heruntergekurbelt hatte, einen fragenden Blick zu, aber sie zuckte nur mit den Schultern. Das nahm ich als Angebot.
So fuhr ich das letzte Stück und sah ab und zu über den Rückspiegel zu Shawn, der nun hinten saß. Er wirkte beruhigt und meinem Magen ging es tatsächlich etwas besser, er hatte recht behalten.
Zu Unrecht, wie sich gleich herausstellen sollte, denn es gab keinen Grund beruhigt zu sein. Überhaupt keinen.
*
»Wer von Ihnen ist Mrs. Heart?«, fragte die junge Ärztin mit ernstem Blick.
»Ich bin Mrs. Heart«, antwortete ich leise und spürte plötzlich Shawns Arm um meine Schultern. Der eifersüchtige Blick seiner Frau kam prompt und er entging mir nicht, obwohl ich im Moment andere Sorgen hatte.
»Mrs. Heart, ist Ihr Mann Mitglied einer Kirche?«, fragte die Ärztin und da gaben meine Knie nach.
Als ich wieder zu mir kam, lag ich unter grellweißen Neonröhren, die ein gespenstisches Licht verbreiteten, und konnte mich im ersten Moment an nichts erinnern.
Wo war ich und warum?
Dann sah ich Alice und Shawn draußen auf dem Gang stehen.
Alles war wieder da: Wir waren im Densewood County, wo Brian nach einem Unfall lag, und ich musste umgekippt sein.
»Ich muss morgen früh nach New York, ich dachte, wir bringen sie nur schnell hierher!«, hörte ich Alice und dann war da eine unverständliche Antwort von Shawn, der mir zulächelte.
Ich richtete mich langsam auf.
»Bitte, Mrs. Heart, lassen Sie Ihrem Kreislauf noch ein bisschen Zeit«, sagte ein junger, smarter Pfleger und stand von seinem Schreibtisch auf. »Haben Sie Hunger?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Dann trinken Sie das hier.«
Er hielt mir einen Becher Cola hin. »Zucker und Coffein, das können Sie beides brauchen.«
Ich trank erst brav und nach dem ersten Schluck sogar gierig, weil ich sofort merkte, dass er recht hatte. Es war genau das richtige Getränk für mich.
Als ich ihm den leeren Becher zurückgab, sagte er: »Dann bringen wir Sie mal zu Ihrem Mann, ja?«
Ich nickte und setzte mich freiwillig in den Rollstuhl, den er heranschob.
»Versicherungstechnisch besser«, zwinkerte er.
Ich fragte mich, wie er mir in meiner Situation zuzwinkern konnte. Wusste er denn nicht, dass mein Mann auf der Intensivstation lag und um sein Leben kämpfte?
Shawn und Alice folgten uns.
»Alles Gute«, sagte der Pfleger, als er mich an die Schwester übergab, die mich zu Brian bringen sollte.
Die Schwester sah viel ernster aus als er und sie schwieg den ganzen Weg, vom Aufzug über die Klinikgänge bis zu der Station, auf der Brian lag. Mir war klar, was das bedeuten musste, als ich meinen Mann da liegen sah.
Über und über bandagiert und an den wenigen Stellen, an denen kein Verband war, waren Infusionen und Kabel angeschlossen.
Die Stunden und Tage voller Hoffnungen und Zweifel waren eine schreckliche Zeit, die ich nicht in Worten beschreiben kann.
Brian kämpfte um sein Leben und ich versuchte, ihn dabei zu unterstützen, so gut ich es konnte. Ich erzählte ihm, wie sehr wir ihn alle brauchten und liebten.
Aber seine Verletzungen waren zu schwer und er hat das Bewusstsein nicht wiedererlangt, wir konnten nicht mehr miteinander sprechen.
Am dritten Tag – ich hatte gerade ein paar Stunden zuhause geschlafen, weil sie mich heimgeschickt hatten, - kam der fürchterliche Anruf aus dem Densewood County Hospital, den ich nie erhalten wollte.
Danach war alles ganz anders und endgültig nichts mehr wie vorher.
*
Es ging weiter. Irgendwie. Es musste ja weitergehen.
Hätte ich mich selbst aufgegeben, wäre das auch das Ende meiner beiden Kinder gewesen, die in mir wuchsen. Es war meine Aufgabe und meine Pflicht, sie zur Welt zu bringen, das wusste ich, denn sie waren das Vermächtnis meines Mannes.
Einige der Menschen, die mir anfangs geholfen haben, kennen mich heute schon fast nicht mehr. Manche sind weggezogen, manche haben einfach nur genügend eigene Probleme, aber ich bin jedem einzelnen für immer dankbar, der mir in dieser Zeit beigestanden hat.
Allen voran meinem Nachbarn Shawn, dessen Frau schon damals sehr oft beruflich unterwegs war.
Ihm konnte ich einfach alles erzählen, von alltäglich bis philosophisch, ihn interessierte alles und er fragte von sich aus, wie er mir helfen konnte. Ich musste ihn nicht darum bitten. Er wich mir auch nicht aus, wenn ich traurig war. So lang danach … Manchmal sind da eben lange Momente, die einem die Tränen in die Augen treiben. Das passiert so lange, bis aus der schmerzenden Erinnerung Dankbarkeit für das Erlebte werden kann. Es braucht Zeit und manche Wunden heilen trotzdem nie.
Inzwischen sind meine beiden Kinder viereinhalb Jahre alt. Die Jahre sind, im Nachhinein betrachtet, wirklich unglaublich schnell vergangen. Es waren die härtesten und auch schöne Jahre. Bittersüß sozusagen.
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