„Gehen wir einfach weiter“, schlug Janus vor, aber Irian schüttelte den Kopf. „Womöglich finden wir dort drin etwas, das wir brauchen können. Waffen oder Ähnliches.“
„Und wenn jemand zuhause ist?“
„Dann fragen wir einfach nach Proviant. Ich habe genug Silbergeld, um dafür zu bezahlen.“
Janus nickte. Das klang einleuchtend. Sollte der Hausherr ihnen nicht freundlich gesinnt sein, so konnten sie immer noch davonlaufen, oder sich notfalls mit ihren Waffen verteidigen. Beherzt ging Irian auf die Tür zu und klopfte. Keine Reaktion.
„Ist dort jemand?“
Vorsichtig drückte er die Klinke herunter, um einzutreten. Zögernd folgte Janus seinem Kameraden und fühlte sich unwohl, als die Tür knarzend hinter ihnen ins Schloss fiel. Ungewohnte Dunkelheit empfing sie. Die mit rauchfarbener Seide verhängten Fenster ließen kaum Licht in den Raum. Janus hatte sich noch nicht an die Düsternis gewohnt, sodass er das Eckstück einer Tischplatte übersah, das sich hart gegen seinen Oberschenkel bohrte. Fluchend rieb er sich die schmerzende Stelle. Durch einen schmalen Spalt zwischen den Vorhängen fielen Sonnenstrahlen ein, die einen hellen Streifen auf den Tisch warfen. Prüfend fuhr Irian mit seinem Zeigefinger über die Tischplatte und hielt ihn sodann ins Licht. Sauber. Keine Spur von Staub. Das Haus wirkte durchaus bewohnt.
„Machen wir doch die Scheiben frei, dann sehen wir mehr!“, schlug Janus vor.
„Gute Idee!“, stimmte Irian zu und trat auf eines der Fenster zu.
„Bleibt, wo ihr seid!“, rief eine kräftige, männliche Stimme. Sie kam aus dem Eingang, der zu einem Nebenraum führte. Die beiden Eindringlinge erstarrten.
Irian spürte eine kalte Schneide unter seinem Kinn.
„Tu’ ihm nichts!“, rief Janus, „Wir sind nur Jäger auf der Suche nach etwas Proviant.“
Ohne seine Waffe zu senken, streckte der Mann seine Hand nach dem Fenster aus und riss mit einem Ruck den Stoff herab, sodass Sonnenlicht herein flutete und das Zimmer erhellte. Auf seinem Gesicht, das alt und eingefallen wirkte, zeichnete sich Misstrauen ab.
„Legt eure Waffen ab!“, befahl er. Die Eindringlinge gehorchten widerwillig. Das schien ihn vorerst zu besänftigen.
„Was wollt ihr hier in dieser abgelegenen Gegend? Hirsche könnt ihr doch auch in der Nähe von Dörfern erlegen.“
Irian wollte eben seine Frage beantworten, als Janus ihm forsch zuvor kam: „Das ist eine lange Geschichte. Wenn du sie hören willst, sollten wir uns lieber setzen.“
Skeptische Blicke streiften ihn. Nach einer Pause fügte der Jüngling grinsend hinzu: „Ein ordentlicher Humpen dazu könnte auch nicht schaden.“
Die Mundwinkel des Mannes hoben sich beinahe unmerklich. Er deutete auf zwei Stühle, die neben dem Tisch standen.
Während die beiden Platz nahmen, verschwand der Alte wieder im Nebenzimmer, um kurz darauf mit drei gefüllten Bechern zurückzukehren. Ein Hocker, der sich bis dahin unter dem Tisch verborgen hatte, diente ihm als Sitzgelegenheit.
„Ich bin Ottla, Hüter des Waldes“, stellte er sich vor und erhob sein Glas, um mit seinen Gästen anzustoßen.
„Irian von Gemenor. Ich bin Lehrer und stamme aus Tralor“, erwiderte Irian höflich. Von den Hütern des Waldes hatte er bereits viel gehört. Sie sorgten für Ordnung im Wald, kümmerten sich um kranke Tiere und Pflanzen.
„Janus“, beendete Janus die Vorstellungsrunde kurz und nahm einen kräftigen Schluck. Doch kaum benetzte die Flüssigkeit seine Kehle, spie er sie prustend wieder aus.
„Was ist das für ein Gesöff?“
Der Waldhüter lächelte. „Birkenrindensaft.“
Irians Fuß stieß seinen Kumpanen unter dem Tisch an und versuchte, die peinliche Situation zu retten.
„Er schmeckt vorzüglich.“
Ihr Gastgeber nickte freundlich.
„Ich habe noch einen ganzen Krug. Ihr könnt ihn ruhig austrinken.“
Diese Aufforderung wohlweislich ignorierend erzählten ihm seine Gäste von ihrem Vorhaben, Drachen zu erlegen. Nachdenklich runzelte sich die Stirn des Mannes.
„Ihr solltet lieber Trolle jagen. Die richten größeren Schaden an als alle anderen Bewohner des Waldes. Außerdem sind Drachen schwer zu finden. Sie haben ein sehr feines Gehör und werden über euer Kommen bereits kundig sein, bevor ihr auch nur erahnen könnt, dass sich einer von ihnen in der Nähe befindet. Besonders Waffengeklirre scheuen sie sehr.“
Ein amüsierter Zug lag um seinen Mund und es schien beinahe so, als sympathisiere er heimlich mit den Riesenreptilien. Irian ließ sich von seinen Worten nicht beirren.
„Das lasst nur unsere Sorgen sein! Wir werden Beute erlegen, dessen bin ich mir gewiss!“
„So soll es sein“, stimmte Ottla scheinbar gleichgültig zu.
„Wohnst du allein hier?“, erkundigte sich Janus.
Seine glanzlosen Augen wirkten traurig, als er antwortete: „Bis vor kurzem bewohnte ich dieses Haus mit meinem Weib, doch sie erlag vor wenigen Wochen einer rätselhaften Krankheit.“
Janus begriff. Das erklärte die verhangenen Fenster, denn auch in Runa sperrten Trauernde das Tageslicht für einige Zeit aus ihren Häusern aus.
„Das tut uns sehr Leid“, entgegnete Irian und Janus nickte bekräftigend.
„Sie war Schneiderin“, erinnerte sich Ottla lächelnd und wies auf das seidene Tuch, das nun auf der Fensterbank lag. „Einige Monate im Jahr reiste sie in die umliegenden Ortschaften, um ihre Kleider zu verkaufen und Stoffe zu erwerben. Die restliche Zeit verbrachte sie hier bei mir. Während ich im Wald nach dem Rechten sah, entwarf und nähte sie neue Gewänder.“
Janus und Irian empfanden Mitleid mit dem Mann, doch trotzdem wollten sie nicht allzu lang in dessen Hütte verweilen. Nach einem Blick in seine spärlich gefüllte Vorratskammer gestand er ihnen: „Ich brauche für mich selbst nur wenig Vorräte.“ Er schenkte ihnen etwas getrockneten Fisch, sowie ein Glas mit eingelegten Beeren, das seine Frau zubereitet hatte, als sie noch nicht von Krankheit gezeichnet war. Nachdenklich blickte der traurige Hüter des Waldes seinen Gästen nach, die noch einmal freundlich zurückwinkten, bevor sie im dichten Gehölz verschwanden.
„Ist es sehr weit?“, erkundigte sich Skiria verhalten.
„Zwei Tagesreisen, nehme ich an...“, erwiderte Ramin und erntete daraufhin ihr erleichtertes Lächeln, „...bis zu der Höhle des Hojomor“, ergänzte er den Satz beinahe schuldbewusst. „Zum Drachenberg werden wir noch einige Tage länger reisen. Doch zuerst führe ich dich zu meinem Onkel Hojomor, den Mutter gewiss besucht hat, um sich mit Drachenkraut zu stärken. Womöglich weiß er etwas über ihren Aufenthaltsort, und wir können sie finden, ehe ein unschuldiger Mensch in ihren Klauen zappelt.“
In Skirias Gedanken formierten sich Bilder ihres Vaters, als er von einem Drachen fortgetragen wurde. Sie mussten unbedingt verhindern, dass ein weiterer Mensch geopfert wurde.
„Wir sollten am besten sofort losgehen!“
Dass Skiria ihn tatsächlich begleiten wollte, entflammte Ramins Begeisterung. „Du musst ein Bündel schnüren!“, ordnete er an. Skiria verstand nicht recht.
„Warum muss ich ein Bündel schnüren?“
„Weil ich das nicht kann.“
„Natürlich.“
Obwohl ihr einleuchtete, dass Drachenklauen sich nicht dazu eigneten, derart diffizile Aufgaben zu bewältigen, wusste sie immer noch nicht, was in einem solchen Behältnis transportiert werden sollte. Endlich klärte Ramin sie auf: „Wir müssen Drachenkraut mitnehmen, und außerdem kannst du dein Kleid und deine Schuhe darin verstauen.“
Als sei es völlig selbstverständlich, dass sich seine Begleiterin für den Marsch ihres Gewandes entledigte, kehrte ihr Ramin den Rücken zu und streckte seinen Hals nach den Baumkronen aus. Verblüfft beobachtete Skiria, wie er mit seinem Maul einen stabilen Ast abknickte, der sich an seinem Ende verzweigte, und ihn zu ihren Füßen ablegte, als handele es sich um ein Geschenk.
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