„Frau Lehnert ist krank!“, entgegnete Jan.
„Was! Was hat sie denn?“, fragte Harald.
„Hören Sie. Am besten, Sie warten, bis Frau Lehnert sich bei Ihnen meldet, und rufen hier nicht wieder an“, erwiderte Jan unfreundlich.
„Ja, dann“, stotterte der Anrufer, „entschuldigen Sie bitte.“
Freizeichen. Er hatte aufgelegt.
Eifersucht! Konstatierte Jan, der den tutenden Hörer immer noch in der Hand hielt. Das ist es. Du bist verdammt noch mal eifersüchtig. Er ärgerte sich darüber, war aber trotzdem froh, sich an diesem Stadtschnösel abreagiert zu haben. Er gab sich einen Ruck und ging hinunter auf den Hof, um zu arbeiten. Clara sah ihn fragend an, als würde sie von ihm eine Erklärung erwarten, aber Jan tat so, als merkte er das nicht. Er beschäftigte sich intensiv mit einer der großen Drehtrommeln, die fürchterlich quietschte und offensichtlich einen Lagerschaden hatte.
Eine Stunde später kam Clara zu ihm. „Das Krankenhaus hat angerufen.“
„Was!!“ Und das sagst du mir erst jetzt?“
„Gerade vor fünf Minuten, du hast es neben deiner quietschenden Drehtrommel wohl nicht gehört“, sagte Clara. „Marie ist ernsthaft krank. Irgendwas mit ihren Nieren. Jedenfalls müssen sie Marie dabehalten.“
„Dann fahren wir morgen vorbei, sie besuchen!“, sagte Jan verbissen und hantierte weiter mit dem Schraubenschlüssel, um Clara nicht ansehen zu müssen.
„Das möchten die Ärzte aber nicht“, zischte Clara ihm wütend ins Ohr. „Marie ist auf der Intensivstation. Da darf sie überhaupt keinen Besuch haben!“ Sie ging, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen.
Nachdem Marie die Nacht im Krankenhaus verbracht hatte, rief am Morgen eine Stationsschwester auf dem Hof an. Ob sie die Adresse und Telefonnummer von Maries Eltern wüssten? Clara war überrascht. Nein, die wusste sie nicht. Marie hatte ihre Eltern einmal auf den Hof eingeladen. Clara erinnerte sich noch gut, wie die beiden neugierig den Hof erkundet hatten. Sie wusste nur, dass Maries Eltern in München wohnten, und versprach, sich nach der Adresse zu erkundigen. Als Clara einfiel, warum die Ärzte sich nicht bei Marie danach erkundigt hatten, hatte die Krankenschwester schon aufgelegt.
Clara erzählte Jan von dem Anruf. Ihm fiel weiter nichts ein, als sie anzumeckern, weil sie sich nicht nach Marie erkundigt hatte.
„Dann kümmere dich gefälligst selbst darum!“, gab Clara wütend zurück.
Jan ging wortlos ins Haus, um in Maries Zimmer nach der Adresse ihrer Eltern zu suchen. Nach einer Weile kam er entnervt zurück. Fehlanzeige, er hatte nichts gefunden. Als er aus dem Haus wieder auftauchte, hielt Clara ihm mit einem ironischen Lächeln einen Zettel mit der Adresse von Karl und Ilse Lehnert in München vors Gesicht.
„Woher ...?“
„Aus dem Gästebuch unseres Hofes, sie hatten sich bei ihrem Besuch im letzten Jahr mit einem netten Spruch eingetragen. Du schaust da ja nie rein. Im Krankenhaus anrufen kannst du aber selbst, nicht wahr?“ Sie ging, ohne seine Antwort abzuwarten.
„Und die Telefonnummer?“, rief er ihr hinterher. Clara zuckte mit den Schultern und ging weiter. Jan starrte ihr hinterher, bis ihm einfiel, die Auskunft anzurufen. Als er endlich die Nummer hatte, rief er im Krankenhaus an, wurde zweimal weiterverbunden, bis jemand an den Apparat kam, der über die Patientin Bescheid wusste.
„Nephrologische Station, Schwester Angermann.“
Jan erzählte die Geschichte zum dritten Mal und wurde schließlich auch die Adresse von Maries Eltern los.
“Ich notiere ...“, sagte die Schwester.
„Was ist denn nun mit Frau Lehnert?“, fragte Jan ungeduldig.
„Wir dürfen keine ...“
„Auskünfte über die Patienten geben“, kam ihr Jan zuvor.
„Warum haben sie denn Frau Lehnert nicht selbst nach der Adresse gefragt?“, sagte er gereizt.
„Frau Lehnert ist zurzeit nicht ansprechbar“, erwiderte Frau Angermann ruhig.
„Steht es denn so schlimm um sie?“, fragte Jan. Ihm wurde jetzt klar, warum das Krankenhaus sich nach den Angehörigen erkundigt hatte.
Die Schwester schwieg einen Moment. „Bitte rufen Sie morgen früh wieder an“, sagte sie, ohne auf seine Frage weiter einzugehen.
Jan blieb sprachlos in seinen Gedanken versunken. Er hielt den Hörer an sein Ohr und merkte erst spät, dass die Schwester längst aufgelegt hatte.
Am Freitagmorgen rief Jan gegen sieben Uhr im städtischen Krankenhaus an. Er musste endlich wissen, was mit Marie los war. Gestern hatte er überhaupt nichts weiter erfahren können. Vielleicht war Marie den ganzen Tag zu Untersuchungen gewesen, oder hatte sich ausgeruht. Schwester Angermann hatte Spätdienst gehabt und war nicht zu erreichen. Als Jan nach Marie Lehnert fragte, wurde er weiter verbunden, um schließlich bei einem Stationsarzt in der Nephrologie zu landen.
Dr. Meurer fragte Jan, in welcher Beziehung er zu Marie stand. Jan erzählte zum wiederholten Male die ganze Geschichte. Der Arzt räusperte sich und sagte für einen Moment nichts. Als Jan sich in Erinnerung bringen wollte, hörte er, wie der Arzt sprach: „Herr Heinrich, ich muss Ihnen eine traurige Mitteilung machen. Frau Lehnert ist in der Nacht leider verstorben. Wir haben alles Mögliche getan, um ihr Leben zu retten, aber vergeblich. Frau Lehnerts Eltern haben wir bereits informiert und sie sind auf dem Weg zu uns.“
„Aber was hat Marie denn …“
„Eine tödliche Infektion, mehr darf ich Ihnen aus rechtlichen Gründen nicht sagen, Herr Heinrich. Mein aufrichtiges Beileid zum Tod ihrer Kollegin. Glauben Sie mir, dass …“
Bei den Worten hatte Jan seinen Arm mit dem Hörer sinken lassen und war leichenblass geworden. Er wollte nicht glauben, was er da gerade gehört hatte.
Er musste sofort ins Krankenhaus, mit Maries Eltern sprechen. Nur von ihnen konnte er erfahren, woran sie gestorben war. Ihnen konnte er erklären, dass Marie sich diese Seuche nicht auf dem Hof geholt hatte. Was immer es gewesen war, es kam von woanders. Bei ihnen auf dem Hof stand der Mensch im Mittelpunkt. Er kämpfte mit seinen Tränen. Verdammt, sie konnte doch nicht so mir nichts, dir nichts verschwinden, ohne das einer von der Hofgemeinschaft wusste, was mit ihr geschehen war. Marie hatte wie alle anderen gesund gelebt, seit Monaten kein Fleisch mehr angerührt. Erst, nachdem sie diesen Harald kennengelernt hatte, ging es ihr schlecht. Hatte sie nicht erzählt, dass er in einem Institut arbeitete, wo sie Bakterien genetisch manipulierten? Jan fühlte eine nie gekannte Wut in sich aufsteigen. Schließlich zwang er sich zur Ruhe, um nachzudenken.
Wenn er ehrlich war, ging es Marie, als sie mit Harald zusammen war, besser als zuvor. Vor etwa zwei Wochen hatte sich ihre Stimmung geändert. Sie war blasser und stiller geworden, wahrscheinlich hatten sie da schon Streit. Zumindest hatte Jan das gedacht und insgeheim gehofft, sie würde sich jetzt mehr für ihn interessieren. Aber Marie blieb zurückhaltend, vielleicht aber auch nur, weil sie schon krank gewesen war. Irgendwas mit den Nieren musste es sein, zumindest war sie ja auf so einer nephrologischen Station gelandet. Er musste wissen, was dahinter steckte. Jan schnappte sich die Autoschlüssel, sprang in den Lieferwagen und fuhr los, nachdem er Beate, die er auf seinem Weg zum Auto antraf, kurz erzählt hatte, was geschehen war.
Im Krankenhaus wollten sie ihn nicht auf die Station lassen. Auch wo Marie jetzt war, wollte ihm niemand sagen. Schließlich erfuhr er, dass Maries Eltern vor einer Stunde aus München gekommen waren, um ihre Tochter noch einmal zu sehen. Niedergeschlagenheit breitete sich in ihm aus. Er setzte sich auf eine Bank in die Eingangshalle und wartete. Maries Eltern müssten doch irgendwann wieder herauskommen. Ob er die beiden wiedererkennen würde? Sie waren vor über einem Jahr auf dem Hof gewesen. Er glaubte sich noch daran zu erinnern, dass Marie und ihre Mutter sich ähnlich sahen.
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