Manfred Protz
Nur Tote träumen nicht
Wege der Vergeltung
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Inhaltsverzeichnis
Titel Manfred Protz Nur Tote träumen nicht Wege der Vergeltung Dieses ebook wurde erstellt bei
I. Begegnungen
II. Pläne
III. Wege der Vergeltung
IV. Neue Horizonte
V. Anhang
Impressum neobooks
Shirin Eshghi
Sie hatten miteinander telefoniert und sich in einem leer stehenden Haus verabredet. Hätte man ihn danach gefragt, warum sie ihn so faszinierte, wäre er die konkrete Antwort wohl schuldig geblieben. Zwar fand er ihre Kleidung geschmackvoll, ihren Schmuck elegant und ihr Make-up dezent, auch war er überzeugt, dass die Auswahl ihrer Garderobe ein erhebliches Maß an Selbstsicherheit voraussetzte, vielleicht aber war der eigentliche Grund ihre gesamte Erscheinung, in der sich Schönheit, Stolz und Leidenschaft vereinten, zusammen mit den Fältchen um ihre dunklen Augen und den vollen Mund, die ihn an Trauer denken ließen. Er rätselte über ihr Alter und stellte Mutmaßungen über ihr Liebesleben an. Im letzten Zimmer des Hauses angekommen fragte er sie, ob sie ihm noch weitere Objekte in dieser Art präsentieren könne. Sie lächelte über seine Formulierung und entsprach seinem Wunsch. So kam es in den nächsten Tagen zu gemeinsamen Steifzügen durch unbekannte Welten. Shirin Eshghi erzählte ihm von ihrer Familie, die aus Persien stammte und das Land mit dem Schah verlassen musste. Als sie Interesse an Toms Beruf zeigte, gestand er, eine Geschäftsidee zu haben, mit der er den Markt erobern könne. Anmerkungen und Fragen dazu bezeugten ihre Sachkenntnis, die ihn verwunderte.
Am letzten Tag ihrer Woche voller unerwarteter Eindrücke besuchten sie einen Winzer, der seine Weine in einer idyllischen Straußwirtschaft anbot. Sie probierten einige und blieben bei einem Grauburgunder, gewachsen auf dem Oppenheimer Kalkacker, der sich am steilen Hang über dem Rhein erstreckte. Im Schatten einer von Reben bewachsene Pergola genossen sie den kühlen Wein mit gedünstetem Saibling und jungem Gemüse. Wie die vergangenen Tage, verging auch dieser Nachmittag wie im Fluge, und als die Sonne schon tief stand, war ihm als hätte die geheimnisvolle Frau mehr als Interesse an ihm gefunden. In gehobener Stimmung machten sie sich auf zu ihrer letzten gemeinsamen Besichtigung. Im leeren Haus am Hang hoch über dem Rhein war Frau Eshghi plötzlich schweigsam und verschlossen. Fast teilnahmslos führte sie ihn durch die hellen, hohen Räume, die nach Norden einen herrlichen Blick auf den gewundenen Lauf des Rheines und der Skyline von Frankfurt im Hintergrund boten. Trost spendete ihm der Gedanke, das bevorstehende Ende ihrer Begegnungen könnte der Grund ihres Stimmungswechsels sein. Doch seine Leichtigkeit, die sie oft mit hellem Lachen und funkelndem Blick belohnt hatte, war dahin. Je verzweifelter er nach den richtigen Worten suchte, desto mehr entfernte sie sich. Im letzten Raum angekommen, warf er ihr einen Satz zu, wie einen Anker, der sie festhalten sollte: „Sie besitzen alles, was den Erfolg ausmacht. Sie könnten bei McKinsey oder Boston Consulting in den Metropolen der Welt arbeiten.“
In Angst, sein Versuch könnte scheitern, beobachtete er ihre gekonnte Kopfbewegung, die aus ihrem Haar einen luftigen Fächer machte, hinter dem sie ihr stolzes Lächeln verbarg. Sie durchschritt mit ihren roten High Heels den mit weißem Birkenholz ausgelegten weiten Raum bis hin zum großen Fenster, öffnete es, beugte sich hinaus und schaute auf den breiten Fluss, der sich in der Abendsonne wie ein silbernes Band tief unten im Tal schlängelte. Tom bewunderte ihre langen Beine und ihren Po, der vom gespannten Stoff ihres blauen sommerlich kurzen, schwingenden Kleides betont wurde.
Sie drehte sich um, schenkte ihm einen tiefen Blick und sagte leise: „Ich war eine erfolgreiche Unternehmerin in globalen Geschäften mit Exil-Iranern. Im Jahr 2007 habe ich alles verloren. Danach war ich froh, den Job hier zu bekommen.“
„Hängt ihr Unglück mit der Finanzkrise zusammen? fragte Tom, erstaunt über ihre Reaktion.
„Nein, nein, das Unglück habe ich mir selbst zuzuschreiben. Ich habe das Berufliche nicht vom Privaten getrennt. Ein Fehler, den ich noch heute bereue.“
Danach wandte sie ihm wieder ihren Rücken zu. Plötzlich hörte er ein leises, unterdrücktes Schluchzen.
Erschrocken sagte er: „Habe ich was Falsches gesagt? Verzeihen sie, dass ich mich in Dinge einmische, die mich nichts angehen.“
Sie sah ihn an und entfernte mit dem Ärmel ihres blauen Kleides eine Träne aus dem Augenwinkel ohne ihr Mascara zu verwischen.
„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Es ist meine Schuld, wenn ich mich wie ein kleines Mädchen benehme.“
Tom erwiderte: „Nein, Frau Eshghi, ich hatte mich wohl nicht gebührend unter Kontrolle.“
Als seine Worte im hohen Raum verklangen, sah sie ihn mit rätselndem Blick an und entgegnete: „Kontrolle über ihre Neugier - oder über was?“
„Ja, vielleicht auch Neugier“ murmelte Tom verlegen.
Sie trat ihm einen Schritt näher und murmelte dunkel: „Was an mir macht sie neugierig?“
Tom wich instinktiv zurück und erwiderte nach kurzem Zögern: „Ihre Aura. Sie verwirrt mich.“
„Welche Aura meinen sie?“
Tom spürte die knisternde Spannung vom Nachmittag, ja der ganzen Woche, zurückkehren und gestand: „Vom ersten Augenblick an haben sie mich verzaubert wie eine orientalische Sphinx, die Schönheit, Stolz und Leidenschaft in sich vereint.“
Frau Eshghi zog ihn langsam am Jackett zu sich heran. Er spürte ihren warmen, weichen, verlockenden Körper. Ihr Trésor stieg ihm in die Nase. Die schräg einfallenden Sonnenstrahlen des vergehenden Tages gaben dem großen, leeren Raum eine warme, private Vertrautheit.
Sie sagte: „Sie sind ein einfühlsamer Mann.“ Vom Tal herauf hörte man das tiefe Tuten eines Passagierdampfers. „Aber sie führen mich in Versuchung. Wollen sie, dass ich meinen Fehler wiederhole?“
Ihrer Frage zum Trotz zeigte sie ein Lächeln, das aus Wünschen Verlangen macht, öffnete leicht ihre Schenkel und schenkte ihm eine intime Berührung, deren Intensität Zufälligkeit ausschloss und seine Hoffnung in Gewissheit verwandelte. Als er sie auf die Probe stellte, fühlte er ihren fremden Blick, über den er noch lange grübelte, und hörte sie vorwurfsvoll sagen: „Was machen sie mit mir?“
Im Angesicht seiner Enttäuschung hakte sie sich freundschaftlich bei ihm ein und führte ihn aus dem Zimmer hinaus auf die Straße. Während der Fahrt zurück schwiegen beide. Am Ziel angekommen sagte Tom: „Ich komme am Montagmorgen bei ihnen im Büro vorbei. Ich werde das Haus mit dem großen Quittenbaum kaufen. Wäre ihnen zehn Uhr recht?“
„Dieses Haus haben wir schon am ersten Tag besichtigt, nicht wahr?“
„Ja, am ersten Tag. Aber die Tage danach werde ich nie vergessen, nie mehr“ antwortete Tom.
Dann stieg er aus und öffnete ihre Wagentür. Als er ihr die Hand reichte, brachte sie ihr hoher Absatz ins Straucheln, was sie zwang, an seiner Schulter Halt zu suchen. Als sie ihn fand, flüsterte sie Wange an Wange: „Sie sind ein schlimmer Verführer, wissen sie das?“
Dann verschwand sie in der Primabank.
Roman Morretti durchquerte eilig die elegante Halle und betrat den Lift zum Penthouse. Eine freundliche Stimme begrüßte ihn und wünschte einen angenehmen Aufenthalt. In der obersten Etage wurde er in einen ovalen Eingangsbereich entlassen. Eine konkave Glaswand gegenüber dem Lift gab den Blick frei auf eine chromblitzende Designerküche. Links und rechts davon befanden sich jeweils zwei Türen. Die auf der linken Seite führten durch einen luxuriösen Wellness- und Fitnessbereich und zwei Schlafzimmer, die durch ein Bad und ein Ankleidezimmer getrennt waren. Hinter den Türen rechts der transparenten Wand befanden sich ein Raucherzimmer mit Billardplatte und Spielkonsolen und ein geräumiges Wohnzimmer, in dem Möbel von Le Corbusier den Mittelpunkt bildeten. Zwei Seiten des Raumes waren Panoramafenster mit Blick auf Manhattan und Brooklyn Bridge. Morretti öffnete mit einer App die Glasfront, die Wohnraum und Dachgarten trennte, und schuf so eine einzigartige Event Destination. Auf der Freifläche, mit exotischen Pflanzen bewachsen und wetterfesten Möbeln ausgestattet, genoss der Besucher das berauschende Panorama der Skyline von Manhattan, Brooklyn und dem World Trade Center. Er zoomte sein zukünftiges Büro im Financial District heran. Bei schönem Wetter könnte er in fünfzehn Minuten durch den benachbarten Zuccotti Park in sein Büro und abends am Broadway bummeln gehen.
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