Zuerst sah es aus als würde sie mit Viktoria schimpfen wollen. Elisabeth sah ebenfalls erwartungsvoll auf Anna. Die rieb sich inzwischen den Kopf. Er konnte nicht hören, was sie sagte. Doch auf einmal kam Bewegung in die Kinder. Anna rannte mit dem Ball hinter ihnen her.
***
Nachdem Anna sich von dem Schuss erholt hatte, nahm sie den Ball und sagte: „So, jetzt kommt die Rache.“
Beide fürchteten sich jetzt, dass sie geschlagen werden und liefen weg. Anna hinter ihnen her. Sie hatte beide bald eingeholt und fing an, Viktoria zu kitzeln.
„Das ist jetzt meine Rache! Ich kitzle dich jetzt zu Tode.“
Elisabeth wollte ihr helfen, und auch sie wurde von Anna gekitzelt. Dann kitzelten die Mädchen zurück. Bald lagen sie auf dem Boden und kitzelten sich gegenseitig.
„Aufhören, aufhören! Ich kann nicht mehr“, sagte Viktoria unter Lachtränen.
Auch Elisabeth konnte nicht mehr.
„Das ist doch keine Rache“, meinte Viktoria.
„Wieso ist das keine Rache?“
„Na, weil man da lachen muss!“
„Wieso muss man denn unbedingt weinen? Das ist die schlimmste Rache.“
„Von der habe ich noch nicht gehört.“
„Natürlich nicht! Weil man es nicht schafft, jemanden so lange zu kitzeln, bis er stirbt. Weil man es nicht so lange aushält. Und man sagt ja auch, der hat sich zu Tode geweint, aber bisher hat sich noch nie jemand zu Tode gelacht.“
„Stimmt!“, sagten die Mädchen.
„So, und jetzt gehen wir wieder rein und stärken uns etwas. Denn euer Papa will auch noch etwas mit mir besprechen. Danach können wir dann wieder etwas spielen. Jetzt rein mit euch.“
Die Mädchen liefen schon voraus.
„Wer zuerst in der Küche ist!“
Anna ging noch rasch ins Bad und richtete sich etwas her. So wollte sie nicht zum Grafen gehen. Sie steuerte zuerst das Büro an, weil sie nicht wusste, ob er dort auf sie warten oder schon im Speisezimmer sein würde.
Er war noch im Büro. Er hatte ein leichtes Lächeln im Gesicht. Hatte er sie gesehen? Oder war ihre Kleidung nicht in Ordnung? Dann sagte er auch schon:
„Wir nehmen den Kaffee und Kuchen hier ein. Friedrich weiß schon Bescheid. Sie können gut mit Kindern umgehen“, meinte er noch im gleichen Atemzug.
„Danke. Sie sind auch sehr nett.“
„Das bezweifle ich etwas. Sie haben sie heute den ganzen Tag schon ausgetestet. Nicht so sehr, dass es auffällt, aber wer sie kennt, weiß Bescheid.“
„Ist ja irgendwie zu verstehen, oder? Wenn sie in letzter Zeit einige Kindermädchen hatten.“
„Schuldig! Ich bekenne mich schuldig. Die Gründe, wieso wir so oft wechseln mussten, will ich jetzt lieber nicht nennen. Es waren verschiedene.“
Das sagte er mit so einer Trauermine, dass zuerst Anna und dann der Graf zu lachen begannen. Und er dachte: ‚Wer weiß, vielleicht würde ihr dann auch einfallen, mich heiraten zu wollen.‘
Friedrich kam in diesem Moment herein. Heute wunderte ihn gar nichts mehr. Er stellte Kaffee und Kuchen auf den Tisch. Der Graf stand auf und bat Anna, sich zu ihm auf die Couch zu setzen. Ihr war gar nicht wohl dabei.
„Sie dürfen sich ruhig setzen, ich beiße nicht! Auch wenn es vielleicht andere erzählen.“
Sie setzte sich mit etwas Abstand neben ihn. Friedrich schenkte Kaffee ein und legte jedem ein Stück Kuchen auf den Teller.
„Brauchen Sie mich noch?“, fragte er.
„Nein, Friedrich, du kannst gehen.“
So zog er sich wieder zurück. Anna hatte gehofft, dass er bleiben würde, damit sie nicht allein bei dem Grafen bleiben musste.
„Wie machen Sie das alles nur?“
„Was?“, fragte sie erschrocken.
„Na, das mit den Kindern und den Tieren. Black Beauty frisst Ihnen aus der Hand und mein, sagen wir mal, guter Tierpfleger kann ohne Peitsche nicht zu ihm. Sieht so aus, als würden die Kinder Sie mögen. Der Schuss auf Ihren Kopf war sicher Absicht. Und dann statt zu schimpfen, kitzeln Sie die Mädchen.“
Also hatte er alles gesehen, wie sie schon vermutet hatte.
„Man muss sie nur richtig zu nehmen wissen. Und im Grunde sind Ihre Mädchen gut. Sie gehören noch in die richtige Richtung gebracht. Ich habe aber Hoffnung, dass wir sie noch gut hinbringen können. Ich konnte den meisten Schüssen ausweichen, doch der kam dann doch zu schnell und zu stark. Ich habe abgewartet, was sie machen würden, und sie warteten ebenfalls. Also habe ich das Beste aus der Situation gemacht.“
Sie trank einen Schluck Kaffee, in den sie etwas Zucker und Milch zugegeben hatte. Der Graf hatte die gleiche Angewohnheit. Dann aßen sie etwas von dem Kuchen.
Er nahm den vorbereiteten Vertrag vom Tisch und gab ihn ihr.
„Das ist Ihr Vertrag. Lesen Sie ihn sich bitte sorgfältig durch. Wie besprochen haben Sie zwei Monate Probezeit, jeden Sonntag frei und gegebenenfalls auch an einem Wochentag. Oder zwei halbe Tage. Sie können sich die Arbeit selbst einteilen. Wegen Küche, Keller und dem Haus fragen Sie am besten Elfi oder Friedrich. Die kennen sich am besten mit allem aus.“
Dann nahm er noch einen Schluck Kaffee.
„Wollen Sie noch eine Tasse?“, fragte er höflich.
Er wollte, dass sie noch ein bisschen länger bei ihm blieb. Wieso wusste er nicht.
„Ja, bitte etwas. Der Kuchen ist sehr gut. Ich muss Elfriede nach dem Rezept fragen.“
„Ob sie Ihnen das geben wird? Sie ist sehr eigensinnig, wenn es um ihre Rezepte geht.“
Anna nahm sich noch ein Stück Kuchen. „Sie auch?“, fragte sie ihn.
„Ja, bitte, denn mit Ihnen schmeckt der Kuchen noch einmal so gut.“
Was gab er denn da von sich? Er wollte doch nicht so freundlich sein und sie nicht umschmeicheln. Vielleicht kam sie dadurch doch noch auf falsche Gedanken. Aber sie hatte ihn schon wieder in ihrem Bann gezogen. Er musste woanders hinsehen, um nicht in ihre tiefbraunen Augen zu blicken. Er konzentrierte sich auf seinen Kuchen. Dann fiel ihm ja noch ein, dass ja morgen Schulbeginn war.
„Morgen bringe ich die Mädchen mit dem Chauffeur in die Schule. Ist Viktorias erster Schultag. Ich würde Sie bitten, mitzufahren. Denn jeden Tag kann ich leider nicht dorthin. Falls es etwas Dringendes mit den Mädchen in der Schule zu erledigen gilt, würde ich Sie bitten, hinzufahren. Denn ich weiß nicht, ob ich dann rasch Zeit habe. Zu Elternabende oder dem Elternsprechtag fahre ich selbstverständlich, denn darüber weiß ich ja schon eine Weile vorher Bescheid.“
Sie wollte schon sagen, dass sie das ja nicht ohne Weiteres machen könne, als er auch schon sagte: „Eine unterschriebene Bestätigung liegt vor, dass Sie mich vertreten dürfen, falls es Probleme geben sollte.“
Inzwischen hatten sie den Kuchen gegessen und der Kaffee war auch leer.
„Wie wäre es mit einem Schluck Wein oder Likör? Stoßen wir so auf gute Zusammenarbeit an?“, fragte er, um überhaupt etwas zu sagen und um sie noch zum Bleiben zu überreden.
„Darf ich das denn? Bin ja bei Ihnen angestellt.“
„Nein, noch nicht. Eigentlich ja erst ab morgen. Also dürfen Sie mit mir einen Schluck trinken, ohne dass ich etwas dagegen haben kann“, erwiderte er und lächelte sie an.
„Ja, wenn Sie meinen?“
Sie wusste auch nicht so recht, was sie machen sollte, und am liebsten wäre sie gegangen. Aber es wartete nichts, womit sie sich hätte entschuldigen können. So holte er zwei Gläser und einen Likör. Damit stießen sie auf gute Zusammenarbeit an.
Danach wusste keiner, was er sagen sollte. Die Kinder erlösten sie aus ihrem Dilemma. Hinter ihnen kam Friedrich, der das Geschirr abservierte. Er war verwundert, als er die Likörgläser entdeckte.
„Anna, Anna, hast du schon Zeit? Können wir schon mit dir spielen?“, fragten die Mädchen gleichzeitig.
Anna sah den Grafen an.
„Haben Sie noch Fragen?“
„Nein, ich glaube, das war momentan alles. Nehmen Sie die Rasselbande mit, damit ich wieder meine Ruhe habe“, grinste er verschmitzt.
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