1 ...8 9 10 12 13 14 ...21 „Ach, träumt er mal wieder? Was soll denn aus ihm werden, wenn er immerfort träumt?“
Paul Kammerer, der schräg vor Fritz saß, griff mit einer Hand nach hinten und stieß Fritz leicht an.
„Paul!“, schrie Hauptlehrer Scharff ihn an. Seine blank polierte Vollglatze begann rot anzulaufen, sein akkurat weit nach oben gezwirbelter Schnurrbart fing an zu zittern und die breite Narbe, die quer über die linke Seite seines Gesichts lief, funkelte dunkelrot. „Du hast dich nicht umzudrehen! Wenn ich mit Fritz fertig bin, wirst du das zu spüren bekommen!“
Inzwischen hatte Fritz Wiechmann bemerkt, dass er gemeint war, und starrte mit hochrotem Kopf auf Hauptlehrer Scharff.
„Ja, will er nicht wenigstens aufstehen, wenn ich mit ihm rede? Meint er, er sei etwas Besseres, nur weil sein Vater Universitätsprofessor ist? Diese Flausen werden wir ihm austreiben!“
Langsam und am ganzen Körper zitternd erhob sich Fritz und trat aus der Bank.
„Nun – die Antwort?“
Aber Fritz hatte die Frage gar nicht verstanden, und selbst wenn er sie gehört hätte, es hätte nichts genutzt, denn Zahlen, die aus mehr als einer Ziffer bestanden, waren ihm immer noch ein Rätsel. Er sah beschämt auf seine Füße.
„Ja, kann er nicht wenigstens geradestehen? Bauch rein, Brust raus! Wir brauchen ganze Kerle, um die Schmach von Versailles zu tilgen! Nicht solche Jammerlappen! – Wann kommt endlich die Antwort? – Ich warte nicht mehr lange.“
Hauptlehrer Scharff erhob sich langsam von seinem Katheder und nahm seinen Rohrstock, der immer griffbereit vor ihm lag. Ein voluminöser Spitzbauch verlieh diesem kleinen Mann im Verein mit einem nahezu fehlenden Hals ein groteskes Aussehen. Und so war er unter Seinesgleichen oft Ziel von Spott und Hohn. Deswegen unterrichtete er gern die Kleinen. Denen konnte er noch richtig Angst einflößen.
„Also, dann frage ich eben noch einmal: Wie viel ist zwölf mal vierundzwanzig?“
Leise und kaum verständlich kam die Antwort: „Weiß nicht.“
„Habt ihr ihn verstanden?“, fragte er die anderen Schüler, natürlich ohne eine Antwort zu erwarten. „Ich habe ihn nicht verstanden. Und ich habe gute Ohren. Antworte er noch einmal, aber so, dass man’s verstehen kann! Und bilde er einen richtigen Satz!“
Fritz nahm seine ganze Kraft zusammen, um die Tränen zurückzuhalten, und sagte etwas lauter als vorher: „Ich weiß nicht.“
„Es muss heißen: Ich weiß es nicht! Dummkopf! Sprich mir jedes Wort nach – laut und deutlich:
- Ich“
- „Ich“
- „weiß“
- „weiß“
- „es“
- „es“
- „nicht!“
- „nicht.“
Bei jedem Wort ließ Hauptlehrer Scharff den Rohrstock laut pfeifend durch die Luft sausen.
„So, er weiß es nicht! Dann muss man es ihm eben einbläuen, damit er sich‘s merkt. Komme er zu mir nach vorne!“
Alle wussten, was das bedeutete.
Langsam ging Fritz mit gesenktem Kopf nach vorne. Jetzt konnte er sich nicht mehr beherrschen. Die Tränen liefen ihm über die Wangen. Seine Augen starrten den Boden vor ihm an.
„Will er mich nicht ansehen?“, schrie ihn Scharff an, als er vor ihm stand. „Das will ich ihn lehren!“
Er griff dem Jungen mit der Linken unter das Kinn, hob ihm den Kopf an und gab ihm mit der Rechten eine schallende Ohrfeige, so dass alle fünf Finger seiner Hand auf der Wange zu sehen waren.
„Und jetzt will ich ihn rechnen lehren!“
Er packte ihn mit der linken Hand im Genick und drückte ihn auf die erste Bank. Mit der rechten zog er ihm die Hose herunter. Fritz war so starr vor Angst, dass er nicht einmal weinen konnte.
„Also, wie viel ist zwölf mal vierundzwanzig? Eins – – zwei – – drei!“
Bei „drei“ klatschte der Rohrstock mit Wucht auf das Gesäß des Jungen und hinterließ einen roten Striemen, der an einigen Stellen sofort aufplatzte.
„Immer noch nicht? Dann versuchen wir es andersherum: Wie viel ist vierundzwanzig mal zwölf?“ Und er wiederholte die gleiche Prozedur. Fritz antwortete natürlich wieder nicht.
„Er ist und bleibt dumm. Dann muss ich es ihm eben sagen.“
Er bückte sich zu dem Jungen hinab und schrie in sein linkes Ohr, jede Silbe mit einem Stockhieb begleitend: „Zwölf – mal – vier – und – zwan – zig – ist – zwei – hun – dert – acht – und – sieb – zig!“
„Zweihundertachtundachtzig, Herr Lehrer!“, rief Paul aus der vorletzten Reihe.
Scharff erstarrte. Es war absolut still im Raum. Sein Kopf wurde jetzt dunkelrot und die Narbe funkelte noch intensiver. Alle erwarteten einen Ausbruch. Aber der Hauptlehrer griff nur mit einer Hand an die Narbe seiner linken Wange und sagte leise, aber bedrohlich: „Hier –schaut her! – Ich habe vor Verdun für unser deutsches Vaterland meinen Kopf hingehalten – und wenn Gott mir nicht beigestanden hätte, wäre ich nicht zurückgekommen – und da kommt so ein Rotzbengel und will mich rechnen lehren!!“
Und dann schrie er und seine Stimme überschlug sich: „Fritz, stell dich in die Ecke! Dort bleibst du bis zum Ende der Stunde. Und Paul! Du kommst sofort her und holst dir deine Tracht Prügel ab!“
*
Zehn Minuten später. Hauptlehrer Scharff hatte Paul so heftig geschlagen, dass der jetzt kaum sitzen konnte, und war danach mit seinen Kopfrechenübungen fortgefahren, als ob nichts geschehen wäre. Da rief plötzlich einer der Jungen ganz laut: „Schaut mal! Fritz hat in die Hose gemacht!“
Alle blickten in die Ecke zu Fritz. Um dessen Füße hatte sich eine große Lache gebildet. Schallendes Gelächter in der Klasse.
Eine Woche vor Ostern hatten sie im Michaelistift Adolf Reimanns 95. Geburtstag gefeiert. Es war ein großes Fest. Alle Bewohner waren eingeladen und die meisten auch gekommen. Die Seniorenblaskapelle des Hauses spielte Marschmusik. Der Oberbürgermeister gratulierte persönlich. Alle wunderten sich über den Jubilar. Er machte einen ganz munteren Eindruck und schien durchaus mitzubekommen, was um ihn herum geschah. Ja, er schien sich tatsächlich zu freuen. Das war ungewöhnlich, da er schon lange kaum noch lichte Momente hatte und meistens in seiner eigenen Welt lebte, zu der außer ihm niemand Zugang hatte. Auf die Realität reagierte er in der Regel mit Grimm.
Ein paar Tage später geschah dann etwas völlig Überraschendes. Beim Abendessen nahm er wie gewöhnlich nicht am Tischgespräch teil, unterbrach es auch nicht mit unsinnigen Kommentaren. Doch dann fing er plötzlich ganz unvermittelt an zu erzählen. Nicht zielgerichtet, sondern in Bildern, die nur schwer in einen Zusammenhang zu bringen waren:
… dieses Dorf in Russland …
Kinder schrien …
die Türen von außen verbarrikadiert …
eine große Scheune …
zwölf Kameraden tot …
ein Mannschaftswagen …
aufgefahren auf eine Mine …
völlig zerfetzt …
Feuer …
das Scheunendach …
Partisanen, sagten sie …
die Männer …
an die Wand gestellt …
eine Heldentat …
daneben geschossen …
absichtlich …
hätte vors Kriegsgericht kommen können …
alles so still …
schrien nicht mehr …
die Kinder …
eingestürzt …
habe selbst die Fackel geworfen!
Adolf Reimann war dann mit einem Ruck aufgestanden, hatte seinen Rollator gegriffen und mit schlurfenden Schritten den Speisesaal verlassen.
Die beiden Frauen und Fritjof Fries blieben eine Weile schweigend sitzen. Dann stand Hannah plötzlich auf und verließ gleichfalls den Raum, Hedwig folgte ihr auf den Fuß.
Fritjof Fries blieb sitzen. Er sah ins Leere. Erinnerungen aus längst vergangenen Zeiten waren plötzlich wieder gegenwärtig. Vor fast allen graute ihm.
Doch dann war da auch ein ganz anderes Bild – der schönste Augenblick in seinem Leben.
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