So sehr auch die Forschung seit alters her sich müht, die rätselvolle Sphinx, Hysterie genannt, zu erkennen, so mühselig scharfsinnige klinische Beobachtung und theoretische Deutungskunst die phantastischen Erscheinungsformen der Hysterie aufzuhellen streben, die Hysterie bleibt die rätselvolle Sphinx. Wer sie aus dem wechselvollen Alltagsdasein in ihren proteusartigen Wandlungsmöglichkeiten kennt, wer die voluminösen Monographien der Hysterie mit ihrem Massenmaterial an literarischem und Erfahrungsrüstzeug durchstudiert, findet letzten Endes das Schlussstück ungeklärt, die Schlussfrage offen: » Wie setzt sich eine Vorstellung, eine Willensregung, ein Gefühl in körperliche Erscheinungen der absonderlichen hysterischen Form um ?«
Rätselvoll wie ehedem der Mechanismus dieser Umformung! Rätselvoll auch heute noch, selbst wenn man die Freud sche Lehre mit ihrem Kern wertvoller Bereicherung unseres Wissens vom Unbewussten zu Hilfe nimmt! Ganz besonders erstaunlich ist aber die deutlich klaffende Lücke unseres Wissens, dass wir von dem Geschlechtsleben der an Hysterie Leidenden so gut wie gar nichts wissen und auch aus der überreich quellenden Hysterie-Literatur darüber fast nichts erfahren. Diese schweigt sich darüber fast ganz aus. Verschuldet es die althergebrachte Scheu vor der Beschäftigung mit sexuellen Dingen oder die Nichtachtung ihrer Bedeutung für das Gesamtempfinden des Menschen? Tatsache ist jedenfalls, dass die literarischen Mitteilungen nur spärlich sind, keineswegs ihrer Bedeutung entsprechen. Und doch ist das Geschlechtsleben der Hysterischen von ungeheurer Tragweite, bedeutungsschwer für den Träger des Leidens selbst und die Gestaltung seines Lebensschicksals, bedeutungsschwer aber auch für andere Menschen, mit denen das Leben die hysterische Persönlichkeit verkettet. Unsagbares Leid, Vernichtung Einzelner und ganzer Familienexistenzen kann die hysterische Geschlechtseigenart zuwege bringen, weil sie zu wenig gekannt ist, zu spät erkannt wird, in ihren Abirrungen kaum oder zu spät verstanden wird und bei forensischer Bewertung die sonderbarsten richterlichen Beurteilungen erfährt.
Wandlungen in der Auffassung der Hysterie
Wandlungen in der Auffassung der Hysterie
Wenn ich versuche, das Geschlechtsleben der Hysterie zu schildern, wie es eigene und fremde Erfahrung mich kennen lehrte, ist solch Versuch wohl möglich, da der Begriff »Hysterie« sich von Grund aus wandelte und mit einem anscheinend scharf gekennzeichneten Krankheitsbild sich so weit veränderte, dass man an seiner Existenz überhaupt irre wird?
Eine nicht unwichtige, vielleicht sogar verhängnisvolle Vorfrage!
Zum mindesten ist es erforderlich, ehe man vom Geschlechtsleben Hysterischer spricht, erst klar festzustellen, was man unter »Hysterie« versteht. Lassen wir außer Betracht, dass Laien und mitunter auch Ärzte oft schon jede Sonderbarkeit, jede überschäumende Laune, jede auffallende Handlung, jede Verletzung und Durchbrechung einer Sittlichkeitsnorm als hysterisch ansprechen, so bleiben hinreichende gegensätzliche Lehrmeinungen wissenschaftlicher Richtung übrig, um klar erkennen zu lassen, wie weit wir von einer eindeutigen Kennzeichnung oder Erkenntnismöglichkeit der Hysterie entfernt sind. Ist es dann aber nicht vermessen oder zum mindesten verfrüht, die wohl gewichtigste Empfindungsskala im Dasein Hysterischer, das Geschlechtsleben, zu behandeln, wenn unter dem Begriff »Hysterie« zu verschiedenen Zeiten und von verschiedenen Schulen grundverschiedene Dinge verstanden werden?
Es klingt bitter und ist doch wahr, wenn Steyerthal die betrübende Tatsache, dass noch niemand auf die Frage »was ist Hysterie?« eine treffende Antwort gab, dahin glossiert: »Das ist bis dato der einzige Punkt bei dem ganzen Kapitel, über den sich die Forscher einig geworden sind »Die Hysterie in foro«, Ärztl. Sachverst.-Ztg. 1914, Nr. 8, 9..« Durch zwei Jahrtausende ein unaufhörlicher Kampf verschiedener Anschauungen, bis Charcot – »mehr durch die Macht seiner Persönlichkeit, als durch die zwingende Beweiskraft seiner Lehrsätze« sagt Steyerthal – seine Lehre ausstreut und in alle Welt verbreitet. Hiernach können wir die Hysterie erkennen. Wir müssen nur nach den Stigmata hysterica suchen, die bei echter Hysterie nimmer fehlen. Und so suchten wir in unserer Lehrzeit gläubig danach, so suchten wir auch nach gereifter Lebenserfahrung danach, und wir fanden sie und waren stets des Fundes froh. Da sahen wir Empfindungsqualitäten merkwürdig verändert, Berührungs-, Schmerz-, Temperaturempfindung eigenartig aufgehoben, und der wunderkräftige Magnet konnte diese Empfindungen sogar von einer Körperseite zur andern hinüberzaubern (Transfert). Waren gleichzeitig Geruch und Geschmack halbseitig aufgehoben, waren andere Sinnesempfindungen eigenartig verändert, das Gesichtsfeld eingeschränkt, die Farbenperzeption merkwürdig verschoben, so war kein Zweifel an der Hysterie übrig, und alles, was die Hysterie dann an Muskelspannungen, Muskellähmungen, Muskelkrämpfen leistete, in seiner Grundbedeutung geklärt.
Doch die Bedeutung dieser Stigmata, die unser Urteil so bequem sicherten, und die scheinbar zur Ewigkeitsdauer bestimmt waren, ward nur zu bald erschüttert. Ärzte waren so vermessen, den ketzerischen Gedanken auszusprechen, dass all die Wunderzeichen, die Stigmata, Kunstprodukte der ärztlichen Untersuchungstechnik wären. Böttiger Neurol. Centralbl. 1897, S. 514. erklärte am 12. April 1897 im ärztlichen Verein zu Hamburg die wichtigsten Stigmata, nämlich Gesichtsfeldeinschränkung und Hemianästhesie, für »autosuggeriert oder durch den Untersucher suggeriert.« Und derselbe Böttiger sagt, dass er die hysterischen Sensibilitäts- und Gesichtsfeldstörungen nach seiner 23jährigen Erfahrung als größtenteils durch die ärztliche Untersuchung hervorgerufen ansehe. Böttiger selbst findet sie trotz darauf gerichteter Untersuchung, allerdings unter vorbeugenden Suggestionen, selbst bei hysterischen Mono- und Paraplegien niemals mehr. Forel nennt die »zones« und »points« hysterogene Artefakte, d. h. Symptome, die, wie alle Symptome der Hysterischen, dadurch fixiert werden, dass man sich damit beschäftigt Der Hypnotismus. Enke, Stuttgart 1902, S. 134.. Auch Babinski Deutsche med. Wochenschr. 1907, Nr. 6 und Sem. méd. 1919 Extr. p. 6.warnte vor der Überschätzung dieser Zeichen. »En ce qui concerne les prétendus stigmates je puis dire que depuis des années je n'en trouve plus chez les hystériques qui n'ont pas été préablement en contact avec des personnes capables de les avoir suggestionnés.« Kollarits Ztschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 49. Bd. 1919.spricht von einer Pseudoanästhesie, einem ›nicht immer, aber in den meisten Fällen iatrogenen Kunstprodukt‹;, von den Ärzten bei der Untersuchung unbewusst verursacht.« Mit dem bedenklichen Anlauf gegen die Kriterien einer Hysterie, die diagnostische Bedeutsamkeit der Stigmata, geriet das ganze Krankheitsbild der Hysterie ins Wanken. Hoche Die Differenzialdiagnose zw. Epilepsie und Hysterie, Berlin 1902. sagt unumwunden: »Wer die These aufstellen würde, dass der hysterische Charakter gar nichts mit der Hysterie zu tun hat, sondern ein Zeichen der Entartung darstellt, dass es überhaupt ein Krankheitsbild der Hysterie nicht gibt, sondern nur eine besondere Form psychischer Disposition, die man als hysterisch bezeichnet, wäre gar nicht zu widerlegen.« An anderer Stelle sagt Hoche Hoche , Handb. d. ger. Psychiatrie. Aug. Hirschwald, Berlin 1901, S. 44.: »Für die forensische Praxis hat die Pseudologia phantastica der Entarteten und der Hysterischen ( die zum großen Teile auch nichts anderes sind als Entartete ) sehr große Bedeutung.«
Also eine unumwundene, einschränkungslose Einreihung der hysterischen Eigenart in das Krankheitsbild der Entartung. Forel nennt die Hysterie »kein ganz abgeschlossenes Krankheitsbild, sondern einen pathologischen Symptomenkomplex oder Syndrom l. c. S. 138«. Die von Hoche als möglich bezeichnete These stellte endlich Steyerthal Was ist Hysterie? Karl Marhold, Halle 1908. auf und verficht sie mit selten beredten Worten:
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