Pauline schaut sie mit großen Augen verdutzt an. „Die Luft?“ Schließlich lacht sie. „Ach so. Ja, ja, klar! Wir setzen uns einfach zum Ventilator, dann werden eure Gesichter schon trocken.“
„Ich glaube, Felix meint, dass du zwischendrin mal einatmen solltest“, erkläre ich, während sie uns an den Händen zum Ventilator zieht.
„Das kann ich nachher immer noch“, erwidert Pauline bestimmt, „jetzt müssen wir erst Mal sehen, dass ihr gewinnt.“ Sie dreht sich zu uns um und grinst verschmitzt. „Sonst komme ich doch nie ins Les Sables .“
„Wie jetzt?“ Felix und ich bleiben stehen.
„Ja, ja ich darf mit!“ Aufgeregt zerrt uns Pauline vor den Ventilator. „Meine Mutter hat’s erlaubt. Ich konnte sie überzeugen, dass es wichtig ist, dass jemand dabei ist, der euch schminkt und eure Haare frisiert. Stellt euch vor, sie leiht uns sogar ihre Haarnadeln und Frisierzeug. Weil - ihr müsst doch dort Abendkleider vorführen und da muss man doch die Haare hochstecken, und so.“ Atemlos hält sie inne und schaut uns strahlend an. „Ist das nicht geil? Allerdings nur bis zum Ende der Wahl, dann holt mein Vater mich ab“, setzt sie noch betrübt hinzu. „Aber besser als nichts, oder?“ fährt sie fort, während sie anfängt, unsere Gesichter abzupudern und den Lidstrich nachzuziehen.
„Das ist ja super!“, erwidere ich lahm, denn mir ist von Paulines Wortschwall nur eines im Kopf hängen geblieben und kreist dort, wie ein einsamer Planet um eine erlöschende Sonne: Abendkleid ! Ich und ein Abendkleid! Ein dürrer, langer Storch im Abendkleid! Und vor allem: dazu braucht man wirklich Schuhe. Da kann man nicht barfuß laufen.
In Gedanken gehe ich meine Schuhe durch, die sich im Kofferraum unseres Autos befinden: Leinenturnschuhe, Flip-Flops, Sandalen und ein paar Ballerinas, also nichts, was wirklich passt. Schließlich katapultiere ich mich wieder in die Wirklichkeit zurück: Hallo, Lana Chérie, wieso denkst du denn, dass du gewinnen könntest?
Eine sanfte Stimme flüstert in mir: Weil du schön bist . Diese Stimme ist so nah, so wirklich, dass ich mich unwillkürlich umdrehe.
„Lana!“ schnauzt Pauline mich an, „Kannst du deinen Kopf nicht still halten, jetzt hast du deinen Lidstrich versaut!“
„Sorry“, murmele ich und versuche, ruhig sitzen zu bleiben.
Endlich hat Pauline uns wieder aufgepeppt und wir schleichen uns zum Rand des Vorhangs, um zu sehen, wie die anderen Gruppen so abschneiden. Gerade hat der letzte Durchlauf begonnen, Tanzen nach einer ausgedachten Blitzchoreografie. Oh, oh, das Zweierteam, das wir beobachten, ist richtig gut. Es bekommt sogar Zwischenapplaus.
Die beiden haben es mit ihrer Kleidung gut getroffen: Sie tragen dieselben Minibikinis, nur dass der eine Orangerot und der andere türkisfarben ist. Beide Mädchen sind sehr klein und zart. Sie müssen schon länger hier Urlaub machen, denn sie sind tiefbraun. Die beiden sind echt gut. Ihre schwarzen Haare fliegen im Takt der Musik. Sie könnten Zwillinge sein und sie bewegen sich absolut synchron. Ich komme mir schon jetzt vor, wie eine Verliererin.
Plötzlich ist da Diego. Er muss seitlich der Bühne gestanden haben, oder auf dem Parkplatz gewesen sein. Ruhig geht er zwischen den Tischen hindurch, als würde er einen Sitzplatz suchen.
Na toll! Ich steuere hier geradewegs auf die Blamage meines Lebens zu, und da unten sucht sich mein Traumtyp den besten Platz, um nur ja alles ganz genau zu beobachten.
Zwischen den Tischen hält er an und schaut kurz zur Bühne hoch, wo die beiden Mädchen tanzen. Am liebsten würde ich ihm zuwinken: Hier! Hier bin ich, hinter dem Vorhang! Aber das geht natürlich nicht.
Die Mädchen auf der Bühne haben sich mittlerweile ein Stück weit voneinander entfernt und tanzen jede ein kurzes Solo. Diego schaut zu der im roten Bikini hin, und plötzlich verändert sich sein Gesichtsausdruck. Er wird blass und verzieht regelrecht angewidert den Mund. Abrupt wendet er sich ab und geht mit schnellen Schritten zwischen den Tischen hindurch auf den Parkplatz zu. Es sieht aus, als sei er auf der Flucht. Aber auf der Flucht wovor? Mag er keine Mädchen oder was? Schießt es mir durch den Kopf.
Jetzt haut er ab, das darf doch nicht wahr sein. Da habe ich mich gerade damit abgefunden, dass er zuschaut und jetzt verschwindet er einfach so. Ich glaube allerdings, dass er im Moment machen könnte, was er wollte, nichts davon wäre mir recht. Mann, bin ich nervös. Ich könnte mich selbst anschreien!
11 PANIK
Die Erinnerung hatte ihn getroffen, wie ein unverhoffter Peitschenhieb. Diego hatte sich in den Pinienhain neben der Bühne zurückgezogen, kniete im Sand und hatte beide Hände vor das Gesicht gelegt. Zufällige Passanten, die ihn so sahen, mochten ihn für betrunken halten, aber das war ihm egal. Der unverhoffte Anblick des tanzenden Mädchens hatte ihm einen regelrechten Schock versetzt und er hatte sich noch nicht wieder unter Kontrolle. Dabei hatte doch alles so gut angefangen.
Lana! Sein Traum hatte einen Namen bekommen. Sie war verwirrt gewesen, als er sie so plötzlich angesprochen hatte, so hatte sie zum Glück seine eigene Nervosität und Anspannung nicht bemerkt. Schließlich war es das erste Mal gewesen, dass er aus eigenem Antrieb in dieser Art auf ein Mädchen zugegangen war, und er hatte seinen ganzen Mut zusammennehmen müssen, um überhaupt ein paar Worte zu ihr sagen zu können.
Diego wusste, dass er gut aussah. Er hatte das schon von vielen Mädchen gehört, aber die Komplimente waren immer von ihm abgeglitten. Diesen ganzen Sommer lang hatte er freundliche Blicke hübscher, junger Frauen aufgefangen und einige von ihnen hatten ihn sogar direkt angesprochen. Er hatte sich nicht darum gekümmert und war ihnen gegenüber immer kühl und distanziert geblieben. Dabei war es nicht so, dass er sich nicht für Frauen interessiert hätte. Einige von ihnen waren wirklich außerordentlich hübsch und nett gewesen, aber trotzdem hatte er geradezu ängstlich jeden engeren Kontakt zu ihnen vermieden.
Panik, das war es, was er empfand, wenn eine lockere Beziehung fester zu werden drohte. Dabei waren durchaus Frauen dabei gewesen, mit denen er sich hervorragend verstanden hatte. Irgendwann war dann aber immer der Punkt gekommen, an dem er sich vorgestellt hatte, wie es sein würde, sie in den Armen zu halten, und sofort war das kleine, graue Gesicht auf dem Rasen wieder vor ihm aufgetaucht.
Mochten die Frauen von ihm denken, was sie wollten, aber das war dann immer der Augenblick gewesen, in dem jede Möglichkeit eines liebevollen Gefühls in ihm abgestorben war. – Wo er ihnen auf freundliche Art zu verstehen geben musste, dass er an einer intensiveren Beziehung nicht interessiert war. Manche von ihnen waren enttäuscht gewesen, manche hatten ihn sogar beschimpft, und manche hatten vermutet, dass er an Frauen generell nicht interessiert sei, aber verstanden hatte es natürlich keine von ihnen.
Sollten sie sich doch alle ihre eigene Erklärung suchen; er war jedenfalls nicht bereit, es noch einmal zu riskieren, die Beherrschung zu verlieren und einen Menschen wie im Rausch zu töten, um seine Gier nach dem wundervollen, köstlichen Strom des Lebens zu befriedigen.
Seit er Lana getroffen hatte, war alles anders geworden. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er einer Frau gegenüber die Initiative ergriffen. Sie war das Ideal, das er immer gesucht hatte, und auch sie hatte ihn vom ersten Moment an gemocht. Es war für Diego so deutlich zu spüren gewesen, dass auch er sie interessierte. Mehr als das: Es hatte sie genauso getroffen, wie ihn selbst. Ohne Vorwarnung und mit voller Wucht.
Im nächsten Teil der Show waren Allgemeinbildung und Findigkeit der Mädchen geprüft worden. Lana und ihre Mitstreiterin hatten sich hervorragend geschlagen. Der Anblick von Lanas kleiner, schwarzhaariger Partnerin war für Diego schwer zu ertragen gewesen, aber er hatte nur auf Lana geschaut. Seitlich der Bühne hatte er darauf gewartet, ihr nachher gratulieren zu können. Es war ihm völlig klar gewesen, dass sie einen der vorderen Plätze belegen würde, das konnte gar nicht anders sein.
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