Seit ein paar Wochen treibt ein Geist sein Unwesen. Einmal hat er die Speicherkarte mit den Pressefotos gelöscht. Für das neuerliche Fotoshooting hat die Theatergruppe einen ganzen Probentag verloren. Dann verschwand der Schlüssel für den Probenraum oder eben Freddies Theatertext. Kleine Zwischenfälle nur, aber dem Regisseur rauben sie den letzten Nerv.
Djamila seufzt laut hörbar und erzählt weiter: „Grad gestern hat er gesagt: In diesem Projekt ist der Wurm drin. Am liebsten würde ich alles hinschmeißen . Wir sind alle erschrocken, aber dann hat er nur dem Freddie die Haare verstrubbelt und gemeint: Aber wir kriegen das schon hin. Alle zusammen. Nicht wahr, Peter Pan? “
Karl Kümmerlich spricht seine Theaterkinder immer mit dem Namen ihrer Rollen an.
„Ich kann verstehen, dass er sich ärgert“, sagt Ulli.
Tim ist derselben Meinung. Er würde es jammerschade finden, wenn das Stück nicht aufgeführt würde. Djamila freut sich doch so darauf. Ob sie als Wendy durch die Luft fliegt? Sie macht ein großes Geheimnis aus der Aufführung und verrät überhaupt nichts.
„Na ja. Jetzt muss ich gehen.“ Djamila steht auf.
„Schon?“
„Ja. Wir proben die Anfangsszene. Also nur die Darlings und die Peter Pans“, sagt sie. „Hoffentlich kann Dejan den Text. Bei der letzten Probe war das richtig mühsam.“
Die vier übrigen Superaugen halten die gedrückten Daumen hoch und Djamila verlässt Oma Bertas Gartenhäuschen Richtung Gemeinschaftszentrum, wo auch der Theatersaal untergebracht ist.
Olli legt ein Holzscheit ins Feuer. „Ich freu mich auf die Aufführung.“
„Ich auch“, stimmt Ulli zu.
„Ich hoffe nur, dass der Theatergeist am Ende nicht doch siegt.“ Tim seufzt. Jeder kennt das Temperament von Karl Kümmerlich. Wenn noch irgendetwas schiefgeht, macht er womöglich mit seiner Drohung ernst und sagt alles ab.
Dabei würde Tim zu gern Djamila auf der Bühne erleben.
„Das wäre doch eigentlich ein Fall für die Superaugen“, schlägt Minimax vorsichtig vor.
Ulli schüttelt den Kopf. „Wir sind doch nicht Stoppelkopfs Sklaven, die ihm seinen Text suchen.“
Es ist kein Geheimnis, dass sie und Freddie Todfeinde sind, seit er sie beschuldigt hat, der Schuhdieb zu sein. Das lässt sie ihm nicht einfach so durchgehen! Sie steht auf. „Ich muss noch Mathe machen.“
Olli schiebt seinen Stuhl ebenfalls zurück. „Und ich muss zusehen, dass sie Mathe richtig macht“, sagt er und zwinkert Tim und Minimax zu. „Und dass sie unterwegs nicht ihren Kopf verliert.“ Wieder weicht er einem Boxhieb seiner Schwester aus. „Stimmt doch, Schwesterlein. Wir alle wissen, dass du allergisch gegen Ordnung bist.“
„Nur der Idiot hält Ordnung“, gibt sie zurück. „Das Genie …“
„… beherrscht das Chaos“, vollenden Tim und Minimax den Satz für sie.
„Genau“, sagt Ulli, packt ihren Bruder an der Hand und zieht ihn nach draußen.
Das Holz knackt im Bollerofen, Benjamins regelmäßige Atemzüge verraten, dass er eingenickt ist. Oma Berta hat ebenfalls die Augen geschlossen und summt leise vor sich hin.
„Ich denke doch, dass das ein Fall für die Superaugen wäre“, meint Minimax nachdenklich.
Tim stimmt ihm zu. „Bevor noch mehr passiert …“
Es ist Abend. Tim liegt in seinem Bett, seine Mama Yasmina ist mit gerunzelter Stirn in ihre Deutschübungen vertieft, auf der Nase ihre Brille aus dem Supermarkt. Er sieht ihr zu, wie sie Wörter in das Buch kritzelt, sie wieder löscht und neu schreibt. Sie lernt Deutsch und es ist nicht einfach für sie. Yasmina kommt aus Namibia. Tims Vater hat dort seinen Urlaub verbracht, sich unsterblich in sie verliebt und sie aus der Savanne in seine Heimatstadt gebracht. Aber ihre Haut ist auch nach vielen Monaten in seiner Heimat nicht heller geworden und da war Tims Vater wohl ein bisschen enttäuscht. Er und Yasmina haben ständig gestritten und eines Nachts hat sie ihren Sohn aufgeweckt und gesagt: „Timmi, wir müssen rasch weg.“
„Wieso weg?“, hat Tim gefragt.
„Wir dürfen umziehen! In ein Schloss.“
„Ein Schloss?“ Tim hat große Augen gemacht und Yasmina hat ihn angestrahlt.
„In ein richtiges Schloss. Mit Zinnen und mit kleinen Türmchen und mit Erkern. Aber wir müssen ganz schnell gehen.“
Tim hat sich anziehen wollen, doch seine Mama hat den Kopf geschüttelt. „Du brauchst nur deine Jacke.“
„Aber meine Kleider“, hat Tim gesagt.
„In dem Schloss kriegst du alle Kleider neu. Prinzenkleider!“ Beschwörend hat sie ihn angeschaut und da ist Tim aus dem Bett gehüpft und hat ihre Hand genommen. Zusammen sind sie in ein Auto gestiegen, das vor dem Haus gewartet hat.
„Und Papa?“, hat Tim gefragt.
Yasmina hat den Kopf geschüttelt. „Das ist ein Haus, wo nur Frauen und Kinder wohnen. Da will Papa nicht hin.“
Das Auto hat sie in das weiße Haus auf dem Hügel gebracht, das wirklich wie ein Schloss ausschaut. Hier leben sie seit ein paar Monaten und Tim gefällt es sehr. Ihm gefällt, dass ihn morgens die Schafe mit ihren leisen Glöckchen und ihrem Blöken wecken. Er liebt das Baumhaus im Kastanienhain und dass er die Stadt vom Erkerfenster ihres Zimmers aus von oben sehen kann.
Yasmina erzählt ihm abends immer Geschichten von einer Prinzessin, die mit ihrem Sohn Timothy in einem Schloss lebt. Der Sohn ist zwar noch ein Kind, aber trotzdem ein furchtloser Ritter. Täglich klopfen erwachsene Kavaliere ans Tor und rufen: „Yasmina, willst du meine Frau werden?“
„Will Yasmina?“, fragt sie dann immer.
Und Tim sagt: „Nein!“
Keiner ist gut genug für seine Mutter. Und die Ritter ziehen wieder davon.
Der Stundenzeiger nähert sich schon langsam der Neun und Yasmina sitzt immer noch mit gefurchter Stirn über den Deutschübungen. „Soll ich dir helfen, Mama?“, fragt Tim. Er steigt aus dem Bett und stellt sich neben sie. „Ich frage dich die neuen Wörter ab, ja?“
Dankbar schiebt ihm Yasmina das Buch zu. Tim überfliegt die Seite. Es geht um Bewerbungsgespräche. Das ist ein wichtiges Thema für seine Mama, denn sie wünscht sich nichts mehr als einen Job. Und einen Job bekommt nur, wer Deutsch kann.
In dem Deutschbuch sind in einer langen Spalte Sätze aufgelistet, daneben steht die Übersetzung ins Englische. Diese Sprache beherrscht Yasmina zum Glück, denn kein Verlag der Welt würde einen Deutschkurs in ihrer Muttersprache drucken. Khoekhoe heißt Yasminas Muttersprache. Die verwendet sie aber nur, wenn sie mit ihrer Mama, Tims Oma, telefoniert. Das klingt richtig lustig, weil sie dabei lauter Klick- und Schnalzlaute macht. Leider hat sie Tim nie erklärt, wie man Khoekhoe spricht. Papa mochte das nicht.
„Lern endlich Deutsch“, hat er immer geknurrt. Aber er selbst hat mit Yasmina auch nur Englisch gesprochen. Jetzt ist Papa weg und Tims Mama lernt jeden Tag in dem Deutschbuch, das ihr die Leiterin des Hauses geliehen hat.
„Ich möchte mich für die Stelle bewerben“, liest Tim auf Englisch vor und sie sagt den Satz auf Deutsch. So fahren sie fort, bis die Liste fertig ist.
„Und wie war dein Tag?“, fragt Yasmina etwas später.
„Ich habe mit Djami den Text geübt“, sagt Tim und erzählt gleich weiter, dass Djamila die Hauptrolle spielt. „Peter Pan“ kennt seine Mama auch und sie findet es genial, dass es in der Stadt eine Kindertheatergruppe gibt.
„Wollen wir die Aufführung zusammen sehen?“, fragt sie.
Tim nickt glücklich.
„Vielleicht wäre das auch was für dich“, meint Yasmina.
Читать дальше