Die Auseinandersetzung des „Neuen Menschen“ mit der Welt.
Ich war stets mit glühendem Eifer für die eine Wahrheit eingetreten, die ich in dieser Zeit, da ich sie immer tiefer aus der Schrift erkannte, auch immer treuer festhielt und lauter verteidigte.
Ich befinde mich in einem großen Zwiespalt, wie das Christentum mit dem Leben zu vereinigen ist, was wir von unserer Eigentümlichkeit lassen und was wir abwerfen sollen. In der Theorie mag so etwas leichter scheinen, als es in Wahrheit ist.
Undenklich groß ist die Veränderung, die seit einem Vierteljahr in mir vorgegangen ist. Ich fühle kräftiger; dies mag manchem als Hitze oder als gemacht erscheinen; ich liebe mutiger und tätiger; Verstand und Herz sind in einem großen Wetteifer; der eine will dem anderen voraus; sie erliegen wechselseitig, bis sie zu jener schönen Harmonie kommen. O schöner Tag, wo das wird wahr werden! Wo dieser nur aus eigener Erfahrung erkennbare Zustand aufhört und beide gebunden durch das reinste Band Hand in Hand einhergehen. Die Hilfe von oben wird mir nicht fehlen.
Die Jünglingsseele gleicht allem Vergleichbaren, dem tobenden Meer und der friedlichen Heimat, dem heillosen Schwelger und dem frommen Heiligen! Nenne eine Freude, einen Schmerz, den seine Seele nicht empfindet, ehe der Jüngling sich entfaltet zum kräftigen, ruhigen, schauenden Mann!
O welche Welt geht einem mit der Kunst auf! Man schwindet betäubt zurück vor den heiligen Hallen dieser Werkstatt des menschlichen Geistes.
An Gottes Hand bin ich zu dieser und zu aller Freude gelangt, die einem .das Herz vor Wonne zerschmelzen möchte. Ich habe schon die unterste Stufe betreten, die zum weitesten Tempel führt. Ich liebe Gott und liebe die Brüder wie mich. Vater, das konntest nur Du geben.
Wenn ich dieses Jahr mit dem vorigen zusammenhalte, wo soll ich dann anfangen, Gottes Hand zu sehen und ihm zu danken! Vor einem Jahr fast gar keine jungen Freunde und von den alten durch äußere Lage gänzlich und schmerzlich getrennt. Jetzt eine Reihe innigster Freunde aus dem Verein und ein Kreis frommer, christlicher und dabei geistreicher, gelehrter und einflussreicher Männer – und das alles erkannt und in mein Herz geschrieben und recht beleuchtet durch das Licht des Evangeliums, das mir in meiner tiefen inneren Nacht Klarheit schenkt und mir den Weg zeigt.
Mein Freundeskreis: Unter dem Namen „Christlicher Verein“ sehen sich eine Reihe von Jünglingen, die, wenn auch im Leben auf das Verschiedenste verzweigt, in dem einen Punkte alle übereinstimmen: Jesus Christus, wahrer Gott und Mensch; da jeder das von dem anderen weiß, werden Gespräche der Art nur selten geführt. Die strengste Moralität, das regste Streben nach dem Besseren, dem Edlen im Leben, in Wissenschaft und Kunst, machen einen zum Mitgliede, zum Freund und Bruder. Dieses Bewusstsein hat Studierende, Kaufleute und Künstler zusammengeführt und soll sie für das ganze Leben zusammenhalten, wenn auch das äußere Schicksal noch so weit im Raume trennt.
Das Evangelium bilde den Mittelpunkt und Quellpunkt unseres Lebens, aber wir wollen uns hüten vor der Engigkeit der Herzen.
Es war ein Aufwachsen aus einer „tiefen Dämmerung“, wie der 18jährige es einmal in sein Tagebuch schreibt, ein Aufbrechen von tief in ihm liegenden Kräften. In geradliniger Folgerichtigkeit wuchs daraus eine immer fester werdende Bindung an Jesus Christus als seinen Heiland. Hinzu kommt im Jahre 1826 eine Begegnung mit Johannes Claudius, dem Sohn des Dichters Matthias Claudius, durch die er zu der Erkenntnis kommt, „dass wir einen Gott haben, der uns unaussprechlich liebt und heiligen will“. Nebenbei belegt er Vorlesungen am Akademischen Gymnasium und holt das Abitur nach. Dort begegnet er als Mitschüler einem seiner späteren Mitstreiter für die Belange der Inneren Mission, Clemens Theodor Perthes.
Hamburg vom Stintfang aus betrachtet
Durch seine Privatstunden kommt Johann Hinrich Wichern mit Familien in Verbindung, die der Romantik und der neu sich regenden Erweckungsfrömmigkeit zugetan sind. Bedeutende Persönlichkeiten Hamburgs nehmen sich des hochbegabten und gläubigen Gymnasiasten an. Im Stadtbibliothekar und Professor am akademischen Gymnasium Hartmann gewinnt der junge Wichern einen väterlichen Freund. Die edle, leidgeprüfte, große Künstlerin Luise Reichard, die Goethe und alle berühmten Romantiker in ihrem Vaterhaus kennengelernt hatte, eine Frau voller Glauben, vermittelt ihm eine Fülle von Anregungen. Im christlich-romantischen Jugendkreis der „Theebakklesia“, wie er ihn scherzhaft nennt, kommt man jeden Sonnabend abends von sieben Uhr an bei Brot und Bier zusammen, singt, musiziert, liest, schwärmt. In nächtlichen Bootsfahrten auf der Alster findet man romantischen Stimmungszauber. Junge Kaufleute, Studenten, Künstler sind sich hier eins in „Jesus Christus, wahrer Gott und Mensch“. Die neue Welt der Jugend tritt hier der noch vom religiösen Rationalismus beherrschten Welt des Alters gegenüber. Man protestiert nicht, doch gestaltet man sich seine eigene Welt. Aus diesem Kreis sind mehrere bedeutende Männer der romantischen Malerei und des öffentlichen Lebens hervorgegangen.
Im Januar 1826 tritt Wichern für ein reichliches Jahr als Hilfslehrer ins Pöseldorfsche Erziehungsinstitut, die Pluns’sche Private Lehranstalt ein. „Ich führte Aufsicht über ungezogene, durchtriebene Buben.“ Die pädagogische Begabung war früh auf ein fruchtbares Feld geraten. Mit Scharfblick und Intensität beobachtet er seine jungen Zöglinge. Er erkennt: „Beim Erziehen müssen wir uns selbst erziehen.“ Schon hier kündigt sich der geniale Erzieher an. Wöchentlich gibt er 23 Stunden Unterricht am Institut, zusätzlich sieben Privatstunden und hört sechs Stunden Kolleg am Akademischen Gymnasium, einer Zwischenstufe zwischen Johanneum und Universität. Nur vier Stunden bleiben nachts für den Schlaf. Oft klagt er über rasende Kopfschmerzen. In diesen Jahren beständiger Überanstrengung und Überreizung trägt Wicherns Gesundheit bleibende Schäden davon. In dieser Zeit legt er sein Tagbuch an, das uns in heiße innere Kämpfe hineinblicken lässt. Wichern ist eine leidenschaftliche Natur, schnell zum Jähzorn entflammt. In unermüdlichem Wahrheitsernst zügelt er seine Natur, und selbst die unscheinbarste Lebenserfahrung bezieht er auf Gott.
Neben seiner Erziehungstätigkeit bereitet er sich auf das Abitur vor: Sein Ziel ist ein Theologiestudium.
Begegnung mit Pastor Rautenberg
Hochbegabte Erweckungsprediger im besten Mannesalter, wie sein Konfirmator Pfarrer Wolters, dann Pfarrer John, vor allem Pastor Rautenberg von St. Georg, der mit ihm privat die hebräischen Psalmen liest, ihn aber auch in die Oper mitnimmt, bestärken seinen Entschluss, Theologie zu studieren.
Johann Wilhelm Rautenberg, Sohn eines Moorfleether Bäckermeisters, drängte es schon immer zu den Kindern. Er wollte Lehrer werden oder Pastor. Durch das Gebot des Herzens und durch Gottes Führung wurde er beides. Vor den Toren und Ringmauern der Stadt Hamburg – heute mitten in ihrem Herzen, am Hauptbahnhof – lag die damalige Vorstadt St. Georg, zu der Zeit ein rasant wachsendes Elendsquartier. Zu ihr gehörten eine Fülle von Marsch- und Geestdörfern.
Als der junge Pastor Rautenberg 1820 hier sein Pfarramt antrat, umfasste seine Gemeinde etwa 8.000, als er 1865 dort starb, waren es 30.000 ‚Seelen’. Eine bunt zusammen gewürfelte Gemeinde von Brennern und Bleichern, Holzhändlern und Schiffern, Gärtnern und Bauern war ihm hier vor den Toren Hamburgs anvertraut.
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