Damit war das Dreiergespräch, das ein Zweiergespräch zwischen Erwachsenen geblieben war, beendet. Es war in der Zeit, in der es Sitte war, dass der Jugendliche zuhörte, wenn Erwachsene miteinander sprachen und ein Gespräch führten, das von großer Bedeutung für den Jugendlichen war, weil da der Weg in seine Zukunft entschieden und festgelegt wurde. Der Gutsherr erhob sich mit der Feststellung, dass das Gespräch damit beendet sei, dem Oberlehrer Dorfbrunner nichts einzuwenden hatte und sich ebenfalls von seinem Stuhl erhob. So tat es der Sohn, der erleichtert war, dass diese Tischrunde zu Ende war und glimpflich an ihm vorübergegangen war. Herr Dorfbrunner bedankte sich für das Gespräch und das Angebot, den Sohn in die landwirtschaftliche Lehre zu nehmen. Beim Gang durch den Flur mit den vollgehängten Jagdtrophäen sagte der Gutsherr, dass der Sohn am Montag der ersten Septemberwoche mit der Arbeit beginnen könne. „Das ist sehr freundlich von Ihnen, vielen Dank“, merkte der Oberlehrer mit leicht unterwürfigem Ton an, während August Emanuel den Erwachsenen im Gehorsamsabstand von zwei Metern folgte. Herr von Wittkopf öffnete die breite Rotbuchentür zum Ausgang und rief von der erhöhten Plattform vor dem Eingang nach dem Kutscher Fritz, als die Dorfbrunners aus nächster Nähe am eingeschnitzten Familienwappen aus Widderkopf und Adler vor gekreuzten Schwertern vorbeigingen, sich neben den Gutsherrn stellten und auf den Einspänner warteten, um sie ins Dorf zurückzubringen. „Ich habe noch etwas für Sie, Herr Dorfbrunner“, sagte Herr von Wittkopf und verschwand durch eine Seitentür in die Küche, in der Frauen mit der Zubereitung des Mittagessens zugange waren. So schnell er in die Küche verschwunden war, kam er wieder heraus und überreichte dem Oberlehrer eine in Papier eingewickelte Gans. „Das ist für ihre Arbeit an meinem Sohn, die gefruchtet hat, denn seine Schulnoten haben sich deutlich gebessert. Nehmen Sie die Gans mit, sie ist bereits ausgenommen. Ich wünsche ihnen und ihrer Familie zum Verspeisen einen guten Appetit.“ Dann stieg er durch eine schmale Seitentür in den Keller, man hörte das Klappern von Flaschen, und kam mit einer Weinflasche nach oben und reichte sie Herrn Dorfbrunner mit den Worten: „das ist ein Tröpfchen, das ihnen zum Braten gut über die Kehle laufen wird.“ Kutscher Fritz kam mit dem Einspänner vorgefahren, stieg von seinem Bock, nahm die abgegriffene Schirmmütze vom Kopf und hielt sie vor die schiefsitzende Kutscherjacke über der verkürzten Schiefbrust mit dem spitzen Rückenbuckel, als der Gutsherr die Dorfbrunners die Treppe herunter zum Wagen geleitete. Der Oberlehrer hielt die Weinflasche in der linken Hand, als er den Wagen bestieg, sich auf die Sitzbank setzte und Herrn von Wittkopf mit breitem Lächeln anstrahlte. Sohn August hielt die eingepackte Gans unter dem rechten Arm, als er auf den Wagen kletterte und sich links neben den Vater setzte. Kutscher Fritz stieg auf seinen Bock, nahm die Leine in seine Hand und gab dem gescheckten Schimmel das Kommando. Der Gutsherr wünschte mit leicht erhobener rechter Hand eine gute Fahrt und ging die Stufen zum Eingang hinauf, als der Wagen den Vorplatz noch nicht verlassen hatte.
Für die Familie Dorfbrunner war die Entscheidung segensreich. August Emanuel, der eine Gesindekammer bezogen hatte, die, wie die andern Kammern, vom Herrenhaus einige hundert Meter weg gelegen war, verrichtete die Feldarbeit zur Zufriedenheit des Gutsherrn. Er hatte sich nach kurzer Zeit in der neuen Umgebung eingelebt und bewies sein Geschick im Umgang mit der Sense, beim Binden der Getreidepuppen, dem Laden des Leiterwagens, dem An- und Ausschirren der Pferde, dem Einfahren der Ernte in die Scheune, beim Lesen und Aufladen der Kartoffeln und den vielen anderen Tätigkeiten. Er bewegte sich fleißig. Keine Arbeit wurde ihm zuviel. Mit dem übrigen Gesinde verstand er sich gut. Er lernte das frühe Aufstehen mit der ersten Dämmerung, das Sich-Waschen draußen über dem Eimer, das Glattstreichen der Bettlake mit dem Zusammenfalten der Schlafdecke auf der harten Liege, das Ordnunghalten der Kammer, die Zufriedenheit mit dem Wenigen, die Reinigung der Ställe mit dem Lockern und Wenden des Strohs, das Entmisten und Füllen der Futtertröge und Tränken vor Sonnenaufgang. Er lernte die Verlässlichkeit in der Durchführung der ihm zugeteilten Arbeit, lernte die Wetterfestigkeit und Ausdauer, wenn er im Feld stand, Pflug und Egge folgte, um die Scholle zu wenden und für die nächste Aussaat zu glätten. Was August Emanuel nach wenigen Wochen der landwirtschaftlichen Lehre begriff, war der Wert der Disziplin in der Einordnung und gegenseitigen Hilfsbereitschaft. Dieses schnelle Begreifen wurde ihm zum Vorteil bei der Verrichtung seiner Feld- und Stallarbeiten, weil ihm da die andern ihre Hilfe nicht verweigerten, wenn er sie brauchte. Er wurde in die Kameradschaft unter den Gutsarbeitern einbezogen, was ihn mit Freude und Stolz erfüllte. Denn bei seinem Tun dachte August Emanuel an seine Familie, ihr keine Schande zu bereiten, zumal ihm der Vater den Satz mit auf den Weg gegeben hatte, nicht nur fleißig und hilfsbereit sein, sondern auch anständig und ehrlich zu bleiben. Diese Mahnung trug er ständig im Herzen und wollte seine Eltern nicht enttäuschen. Segensreich war die gefasste Entscheidung auch deshalb, weil die Familie vom Gutsherrn mit Mehl, Kartoffeln, Eiern und Fleisch bedacht wurde, ohne sie bezahlen zu müssen, als diese Nahrungsmittel in der Zeit der wirtschaftlichen Krise und des Hungers besonders kostbar waren. Der Gutsherr tat es auf eine großzügige Weise, weil ihn mit den Dorfbrunners eine gewisse Zuneigung verband, Vater Dorfbrunner die Gutsherrensöhne gegen ein geringes Entgelt, ohne es gefordert zu haben, unterrichtete, und als Anerkennung für die Arbeit von August Emanuel in der Landwirtschaft. Die Nahrungsmittel, die Kutscher Fritz alle zwei Wochen brachte, waren doch eine wesentliche Hilfe für die Dorfbrunners, die auf diese Weise die Krise umgingen und beim kleinen Salär des Vaters nicht zu hungern brauchten. Mit dem Zugebrachten kam genügend auf den Tisch, und Mutter Dorfbrunner war dankbar, ihre Familie mit ausreichenden Mengen zu bekochen. Die Kost war so reichhaltig, dass der Oberlehrer sogar einen leichten Fettbauch ansetzte, dass ihm der Hosenbund erweitert und die Knopfreihen an Weste und Jacke versetzt werden mussten. Auch die Söhne Claudius Markus und Matthias Johannes blieben durch die Dürrezeit gut genährt; sie erzielten beim guten körperlichen Befinden gute Schulergebnisse auf dem Gymnasium, rückten bis in die Nähe der Leistungsspitze ihrer Klassen auf, während Schüler, die zuvor die besten waren, durch die anhaltende Abmagerung dem gleichförmigen Leistungsabfall unterlagen, dem sie kräftemäßig nichts entgegenzusetzen hatten. Vater Dorfbrunner war stolz über die Schulleistungen der beiden ersten Söhne und das Lob von Herrn von Wittkopf über die Leistung seines dritten Sohnes, August Emanuel, bei der Arbeit auf den Feldern und am Vieh. Der Gutsherr meinte, dass aus dem dritten Sohn noch etwas werden würde, wenn er die Freude für und den Einsatz bei der Arbeit beibehalte. Die Berufsvorstellungen für seine Söhne hegte Vater Dorfbrunner schon länger, dass nach bestandenem Abitur der älteste die Offizierslaufbahn einschlagen, der zweite die Ausbildung zum akademischen Beruf antreten und der dritte ohne Abitur Landwirt werden solle. Das entsprach allerdings nicht ganz der Tradition mittelständiger Familien, besonders dann nicht, wenn der Vater ein angesehener Lehrer war, wo einer der Söhne, meist die Nummer zwei, in die Theologie einzusteigen hatte. So war es jedenfalls bei den Vorfahren der Dorfbrunners, wo von den Söhnen mit Abitur der erste Offizier, der zweite Pfarrer und der dritte Arzt wurde. Das war allerdings zurzeit mit dem festen Glauben, wie ihn der Reformator Martin Luther lehrte. Mit dem Umschwung des sächsischen Königshauses zum vorreformatorischen Bekenntnis, der lutherisch gesehen ein Rückschwung war, wo das Bekenntnis verschwungen wurde, um König von Polen mit Beibehaltung der Dresdner Residenz zu werden, sah Vater Dorfbrunner von der strengen Berufswahlregel ab, dass der zweite Sohn in die Theologie einsteigen müsse, weil er seinem zweiten, dem Matthias Johannes, die Qualen des Zölibats mit den möglichen und immer wieder durchsickernden Abirrungen ersparen wollte.
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