1 ...6 7 8 10 11 12 ...36 Er zuckte zusammen, als die Energie ungehindert in ihn eindrang. Blaue Entladungen knisterten seinen Arm hinauf und verursachten einen Krampf, der ihm die Luft raubte. Die Muskeln seiner Hände und des Kiefers kontrahierten, sodass er sich am Tisch festkrallte und die Cynret-Hülse zerbiss. Instinktiv wartete er auf den Schmerz oder einen Herzstillstand.
Aber beides blieb aus. Es fühlte sich vielmehr gut an – als ob sich sein Körper auflud.
Unvermittelt stoppte der Energiefluss, und die Geräusche um ihn herum verstummten.
Lester keuchte wie nach einem Marathon, spuckte die Cynret aus und hustete. Nachdem er seinen Atem unter Kontrolle gebracht hatte, heftete sich sein Blick an das Fenster: Draußen trafen die Regentropfen auf das Kraftfeld und zerbarsten in graziöser Langsamkeit.
Was zum Teufel …?!
Sein Augenmerk wurde zurück auf das HoloCom-Feld gelenkt, das aufleuchtete. Die Gesprächsübertragung begann. Das Abbild von Lesters Vorgesetztem, der hinter seinem Schreibtisch saß, baute sich auf. Der Mann mit der Glatze und dem kantigen Gesicht öffnete in Zeitlupe den Mund und sagte etwas, doch man hörte nichts.
Perplex starrte Lester die 3D-Projektion seines Chefs an, bis er die Kunstfische im Aquarium am anderen Ende des Zimmers registrierte. Sie schienen im Wasser festgefroren zu sein. Die Cynret, die am Boden lag, brannte zwar, hatte aber bei ihrem Fall Rauchwölkchen produziert, die an einer Kette aufgereiht in der Luft klebten.
Und es roch sonderbar. Nach einer Mischung aus Schnee und … Ammoniak?
Dann war der Dreißigsekunden-Spuk vorbei – die Zeit ruckte nach vorne.
Lester spürte ein Ziehen in seinem Körper, das sich anfühlte, als ob ihn jemand packte und abbremste. Er taumelte und fuhr sich über die Augen. Hatte er halluziniert? War das Phänomen einer Überladung im Schutzschild seines LiSi zuzuschreiben? Möglicherweise ein Kurzschluss, der von dem HoloCom-Schalter herrührte. Doch das Protokoll des Anzugs verzeichnete keinen diesbezüglichen Vorfall. Nichts deutete darauf hin. Nur an sich selbst bemerkte er den Effekt: Er war so ausgepowert, dass ihm die Beine zitterten.
Auch die Geräuschkulisse normalisierte sich.
»… passierte ein Zwischenfall dort unten. Chief-Officer Benx? Benx, verdammt, hören Sie mir zu?«
In seiner Verwirrung blickte Lester vom Aquarium zu den Resten der Cynret, dann reagierte er und wandte sich der holografischen Darstellung seines Chefs zu. »Ja … Sir, ich höre. Ich hatte eben eine … eine Störung meines LiSi. Scheint aber wieder in Ordnung zu sein.« Er stützte sich am Tisch ab. »Entschuldigung, wo ereignete sich ein Zwischenfall, Sir?« Der persönliche Anruf von Nevis Korvalinski überraschte ihn. Es musste wichtig sein.
»Himmel, Benx, werden Sie gefälligst wach! Hat Ihr MindCell die Daten noch nicht empfangen? Ich rufe Sie deshalb so früh …« Korvalinski kniff die Augen zusammen und musterte ihn. »Mensch, Sie sehen ja schlimm aus. Ist Ihr letzter Fall daran schuld? Berichten Sie in aller Kürze.«
Lester straffte seine Haltung angesichts der Gegenwart seines Bosses. »Ich habe die vergangenen drei Nächte kaum geschlafen, Sir, denn es ging um die mysteriösen Todesfälle in Sektor A, Tower 4 im letzten Monat. Wir hatten einen Zusammenhang zu dem Erholungscenter aufgedeckt, da alle fünf Opfer vor ihrem Tod die Einrichtung besucht und die Transcend-Terminals für ihre Ex-R-Freizeitprogramme sowie den Zugang zum CrossStellarNet genutzt hatten. Ich hielt mich zwanzig Stunden in den drei beliebtesten Simulationen auf, hauptsächlich in Traglylon, und habe unter wechselnden Identitäten ermittelt. Unser Verdacht bestätigte sich, Sir … der Hauptserver hat fünf Mal autonom in die Simulationen besagter Terminals eingegriffen! Er gaukelte den Benutzern vor, sie benötigten Energie und müssten sich im Szenario aufladen. So weit, so harmlos.«
Nebenbei griff sich Lester eine Tasse Kaffee aus dem Nahrungsverteiler. »Dummerweise glaubten die Opfer später noch immer daran. Nachdem sie ihre Simulationen beendet hatten, marschierten sie zur Gleiterbahnhaltestelle, verschafften sich Zugang zu dem Bereich unter der Antigrav-Führung der Bahn und stürzten sich in die Hochenergieströme. Der Clou war: Wir fanden in den Leichenresten zwar Nanobots, wunderten uns jedoch, warum sie nach einem solchen Energieschub noch aktiv waren. Wie sich herausstellte, gehörten die Bots nicht zur Aegis-Klasse. Es handelte sich also nicht um Körperfunktion unterstützende Maschinen, sondern um Fremdmodelle. Diese agierten im Endeffekt als clevere Viren, die mittels Gedankenkontrolle die Personen zum Selbstmord animierten.«
Korvalinski runzelte die Stirn und brummte: »Wozu haben die Chips in unseren Köpfen eigentlich Schutzfunktionen? Mir ist unklar, warum die MindCells der Opfer gegen die Virus-Bots nicht ankamen.«
»Weil die Filter der MindCells die ›guten‹ Aegis-Nanobots sahen und nicht die ›bösen‹, denn diese trugen eine maskierte Signatur. Ein Tarnmodus sozusagen! Der Bot hüllt sich in ein Quantenfeld, durch das er seine wahre Natur verbirgt. Eine Fähigkeit, die auf der Quantentheorie basiert, laut der Zustände erst existent werden, sobald man sie beobachtet. Um es kurz zu machen, Sir … jemand, der den getarnten Bot ›betrachtet‹, wird nur das sehen, was er als normal empfindet. So auch die MindCell-Filter. Ich habe Nachforschungen betrieben und konnte mithilfe unserer Experten die Tarnung entschlüsseln und die Herkunft der Maschinen klären. So wie es aussieht, sind die Bots eine Erfindung unseres Vertragspartners, der Gyronics-Tech Corporation, und sogar schon seit drei Monaten unter dem Patent ›Quantumbot‹ auf der Erde angemeldet.«
Während Lester seine Sachen zusammensuchte, vermochte er seinem Boss nicht zu erklären, wie die gefährlichen Maschinen auf den Hauptserver gelangt waren und wieso sie sich durch eine Ex-R-Simulation verbreitet hatten.
»Da scheitere ich an den Sicherheitsbestimmungen des Konzerns, Sir, denn die Sache fällt unter das Betriebsgeheimnis und bietet uns keine Rechtsgrundlage für Nachforschungen. Ist natürlich ärgerlich und ein Riesenskandal, nach dem sich die Presse die Finger lecken wird. Ganz zu schweigen von dem juristischen Nachspiel für GTC, deren Spezialisten momentan die Transcend-Terminals reinigen und den Server austauschen. Leider könnte der Vorfall auch unserem Image schaden, da wir achtzig Prozent unseres Equipments von Gyronics beziehen, inklusive der LiSis. Meinerseits sind die Ermittlungen jedoch abgeschlossen. Ich habe alle Personen untersuchen lassen, die in Kontakt mit besagtem Transcend-Server kamen und kann Entwarnung geben … es gibt keine weiteren Infizierten. An meinem Bericht, der Ihnen demnächst vorliegt, hängt eine MindCell-Updatedatei, die Sie im Detail über die Quantumbots informiert. Tja, das wär’s, Sir.«
»Diese verdammte Traglylon-Scheiße!«, knurrte Nevis Korvalinski angewidert. »Eine Unart, die sich in unserer Gesellschaft etabliert hat, wie zu früheren Zeiten das Surfen im CrossStellarNet. Ich habe ja immer gesagt, uns fliegt der ganze Second-Reality-Mist eines Tages um die Ohren. Und jetzt ist’s soweit. Wir beklagen in der angeblich seriösesten Simulation die ersten Toten! Was, wenn sich das ausweitet?«
»Sir, obwohl ich ebenfalls kein Fan der Materie bin, ist Traglylon die am besten gesicherte Software am Markt. Und da das CrossStellarNet eng mit allen virtuellen Welten verknüpft und das eine vom anderen nicht zu trennen ist, sind die Sicherheitsvorkehrungen dementsprechend streng. Es kann zu keiner Ausweitung kommen. Übrigens lautet der offizielle Begriff ›Extended-Reality‹. Die Variante ›Second-Reality‹ wurde vor geraumer …«
»Ich weiß, Benx! Halten Sie mich für senil?« Sein Chef schnaubte. »Für mich ist das ›offiziell‹ der gleiche Schwachsinn. Und ab heute ist es für mich sogar Eskapismus ohne Wiederkehr! Hoffentlich findet man den Verantwortlichen und macht ihn einen Kopf kürzer. Ich werde den Fall beim nächsten Technologie-Meeting mit GTC zur Sprache bringen, aber im Moment ist das nicht mehr unser Bier.«
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