Zugegebenermaßen verflucht zeitsparend. Dennoch war die Prozedur seiner Meinung nach für den Durchschnittsbürger zu kostspielig, außer es handelte sich um die Software-Updates des Allgemeinwissens. Und dir fehlen hinterher all die wundervollen Erfahrungswerte, die das Umfeld des Lernens mit sich bringt. Einige Arbeitgeber bevorzugten sogar den traditionellen Bildungsweg aus eben jenem Grund, so wie in seinem Fall. Doch vor allem hätte er die Rendezvous mit einer Reihe junger Damen in den Jahren der Berufsqualifikation nicht missen wollen. Inzwischen hatte er überhaupt kein Privatleben mehr, geschweige denn eine feste Beziehung.
Lester wandte sich vom Spiegel ab. Die gerötete Schwellung mitten auf seiner Brust war ihm nicht ins Auge gesprungen.
Auf dem Weg ins Schlafzimmer bemerkte er, dass die Temperatur in der Wohnung weiter sank. Laut Anzeige betrug sie nur noch 12,3 °C. Ohne zu zögern nahm er seinen Multifunktions-Schutzanzug aus der Regenerationskabine.
Von jedermann liebevoll »LiSi« genannt, stellte der Anzug mit der sperrigen Bezeichnung »LiquidSilicon-Nanotubes-BodyShield-GTC/ProTec-6« eine der coolsten Hitech-Entwicklungen der Neuzeit dar. Der goldmetallisch glänzende Stoff des Kleidungsstücks umschlang Lester selbständig und schmiegte sich wie ein lebendiges Wesen an seinen Körper. Nur der Kopf blieb frei – der Anzug generierte erst in Gefahrensituationen blitzschnell einen Helm.
Nachdem das Material eine Verbindung zur Haut eingegangen war, überprüfte es die DNA sowie die MindCell-Signatur des Trägers und meldete volle Funktionsbereitschaft.
Vor Lesters Gesicht erstrahlte ein Hologramm-Visier, auf dem mehrere Symbole zur Auswahl blinkten. Um sich seines freien Tages zu vergewissern, loggte er sich per Gedankenbefehl in das Netzwerk seiner Firma ein. Keine Sekunde später erschien das Erd-Sonne-Kreis-Symbol der Sol Guard als grafische Bestätigung. Mit Mona zu sprechen, der leitenden Künstlichen Intelligenz seiner Zentrale, hielt Lester für unnötig. Er rief lediglich den Dienstplan ab und fand seine Erwartung bestätigt.
Erleichtert klinkte er sich aus dem Netz aus. Das Visier verschwand. Wegen der Kälte in der Wohnung behielt er den LiSi jedoch an, und sein nächster Befehl aktivierte das Thermo-Modul des Anzuges. Die integrierten Hitzefasern im Gewebe spendeten sofort wohlige Wärme.
Am Schreibtisch angelangt, empfing ihn eine dreidimensionale Darstellung seines Wohntowers, die über der Tischplatte aufleuchtete. Alle Bereiche, Punkte von öffentlichem Interesse sowie Verkehrsverbindungen, hob der Computer in unterschiedlichen Farben hervor.
Lester ließ sich in den Sessel fallen, massierte seine kribbelnden Arme und hatte bereits eine Idee, was er heute treiben würde. Virtuelle Welten waren nicht sein Ding. Zumindest nur selten. Es mochte Leute geben, die ihre komplette Freizeit an Transcend-Terminals verbrachten, entweder in einem der Erholungscenter der Stadt oder zu Hause. Aber vorgegaukelten Realitäten konnte er nur wenig abgewinnen, auch wenn sie noch so echt wirkten.
Zudem hatte sich sein gestriger Fall um die Aufklärung eines Ex-R-Unfalls gedreht, der sogar Tote gefordert hatte. Die Ermittlungen waren arbeitsintensiv und nervenaufreibend gewesen und deckten seinen Bedarf nach Digitalwelten für die nächste Zeit. Deshalb rief er das Freizeitangebot auf, da er Fitnesstraining in einer echten Umgebung suchte.
Er wurde schnell fündig. Die Verwaltung hatte einen neuen Erholungsgarten auf Ebene 2 anlegen lassen. Richtig, der soll fantastisch sein. Jeder, der mir davon erzählt, ist begeistert. Wiesen, Bäume, ein See, Ruderboote, Trainingsgeräte … und alles unter einer Schönwetter-Kuppel.
Lester spielte mit dem Gedanken, einen Hostessen-Droiden als Begleitung zu mieten. Schwimmen, flirten, und wer wusste, wohin es einen danach verschlug. Der ganze Spaß würde nicht billig werden, aber nach den Strapazen der letzten Tage brauchte er das.
Gerade als er die Buchung für das Parkparadies abschließen wollte, empfing sein MindCell einen Datensatz von hoher Priorität. Es handelte sich um Details zu einem Zwischenfall in einer der Förderanlagen der Stadt. Und fast im selben Moment summte nachdrücklich das HoloCom im Zimmer nebenan.
Shit! Das war’s mit der Freizeitplanung! Die Datenübermittlung und der Anruf zu dieser frühen Stunde konnten nur eines bedeuten: dass er sich über Erholungsgärten und nette Begleitung keine Gedanken mehr machen musste.
Lester seufzte, stand auf und nahm seine Cynrets vom Tisch. Er ließ sich Zeit, um das Kommunikationsfeld im Wohnraum zu erreichen. Er wusste, was jetzt kam.
Wäre mit dem freien Tag auch zu schön gewesen. Was wollt ihr mir eigentlich noch alles streichen? Vielleicht das Rauchen?
Aus der Packung glitt eine zehn Zentimeter lange, schlangenförmige Kunstzigarette. Er steckte sie sich in den Mund und betätigte den Mikroauslöser, woraufhin die Cynret zu glühen begann. Genüsslich sog er den Rauch ein.
Unwillkürlich musste Lester an seinen Großvater denken. Riesensache damals, als vor dreißig Jahren das Konsumieren von echtem Tabak verboten wurde. Er erinnerte sich vage an die Zeit, an das Ende dieser Nikotin-Ära. Einer der Gründe für das Verbot waren Heere von geschädigten Rauchern gewesen, die sich keine Ganzkörperreinigungen oder Lungenimplantate leisten konnten. Vor allem aber hatte die Zunahme von Millionenklagen gegen die Tabakindustrie die Weltwirtschaft ins Wanken gebracht, da fast alle Zigarettenhersteller Pleite gegangen und die Steuereinnahmen für die Erdregierung verloren waren.
Also musste etwas Neues her. Die Cynrets repräsentierten nicht nur einen Zigarettenersatz, sondern produzierten verschiedene Gerüche, Rauchfarben und -formen und stellten durch ihr Nikotin-Surrogat keine Bedrohung für die Gesundheit dar. Abhängig machten die »Cyns« nach wie vor, aber die Hersteller hatten aus der Not eine Tugend gemacht und Vitaminpräparate, Impfstoffe sowie Heilmittel integriert, die über die Lunge aufgenommen wurden.
Selbst die herkömmliche Ernährung konnte für mehrere Tage minimiert werden. Rauchen steigerte das Wohlbefinden. Das stand jedenfalls auf den Packungen. Lester vermochte nicht zu beurteilen, ob die Werbeslogans der Wahrheit entsprachen, da es zu viele widersprüchliche Studien zu dem Thema gab und er es über einen längeren Zeitraum nicht ausprobiert hatte. Sein Schutzanzug verabreichte ihm bei Bedarf die fehlenden Nährstoffe, und er musste sich im Prinzip nur um eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr Gedanken machen.
Der geneigte Raucher wusste jedoch, dass die Mikroenergiezelle, die für das Entzünden der Cyns sorgte, ein Strahlungsfeld erzeugte, welches die Debatten zwischen der Nichtraucher-Lobby und der Industrie in schöner Regelmäßigkeit hochkochen ließ. Forschungsstudien entlasteten jene Strahlung zwar hinsichtlich ihrer Gefährlichkeit für das menschliche Nervensystem, doch die dafür zuständigen Labore, deren Namen den Aufdruck der Packungen zierten, standen ganz oben auf den Interessenslisten der Cynret-Lobby.
Indessen hatten die Leute, die das harte Zeug von früher brauchten, keine Probleme, auf dem Schwarzmarkt und zu entsprechenden Preisen an Tabakzigaretten ranzukommen. Bei echtem Alkohol griff der Gesetzgeber nicht ganz so scharf durch.
Lester stellte sich im Wohnraum vor das Holo-Kommunikationsfeld am Boden und dachte »Anruf annehmen« .
Keine Reaktion.
Er versuchte es akustisch, dann manuell, aber auch durch Berühren des Kontrollsensors am Tisch erschien kein Bild des Anrufers.
Das Mistding ist noch immer defekt, obwohl ich dem Techniker des Wartungsteams gestern Bescheid gegeben habe!
Fluchend schlug er mit der Faust auf den Sensor.
In diesem Moment bekam er einen elektrischen Schlag.
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