»Shit! Passen auf, du mich fast aufgefressen und …«
Eric stieß sich mit den Hinterbeinen vom Boden ab und es fühlte sich an, als wäre er von einer gefährlich harten Sprungfeder nach oben geschossen worden. Er sah in Jacks Gedanken den kurzen Schock der extremen Beschleunigung, erinnerte sich an seinen Traum und das ihn anspringende Monster, mahnte sich selbst zur Vorsicht. Er jagte in Richtung Himmel und schoss schließlich mit irrsinniger Geschwindigkeit und Zielstrebigkeit auf den Wald zu. Er spürte hinter sich die Wächter, wie sie versuchten, ihn und Jack einzuholen. Aber er gab sich noch nicht einmal Mühe, sie abzuhängen. Vielmehr spielte er mit seinen Kräften und wollte herausfinden, wo das hinführen würde. Jack hingegen machte das alles eher weniger Spaß. Eric hatte den Geschmack von Jacks Kleidung auf der langen Zunge und spürte, wie Jack langsam abrutschte, da er nicht fest zupacken konnte, ohne ihn mit seinem Gebiss zu töten. Besorgt spürte Eric die haardünnen Fasern des Stoffes und eine Sekunde später hatten ein paar der messerscharfen Zähne das Gewebe zerfetzt und Jack fiel wie ein Stein.
Eric bekam einen solchen Schrecken, dass er verzögert reagierte. Er stürzte sich in die Tiefe hinter Jack her, der ihn in Gedanken verzweifelt rief. Etwa zweihundert Meter über den Baumkronen streckte Eric eine seiner Klauen aus und packte Jack um die Hüfte, als würde er eine Flasche auffangen. Schnell spreizte er seine Flügel und im letzten Moment presste ihn ein warmer Aufwind wieder nach oben. Jack dachte nun gar nichts mehr, er hatte endgültig genug. Eric lockerte seinen Griff etwas, um sicherzugehen, dass er Jack nicht verletzte. Die Wächter rauschten noch immer hinter ihnen her, doch sie kamen nicht näher. Eric wollte ihre Gedanken lesen aber ihre Sprache oder Form der Kommunikation wirkte fremd, er konnte nicht zu ihnen durchdringen. Jack hatte sich von seinem kleinen Schock erholt. Er sammelte seine Kräfte, in Erics Kopf schallten seine Gedanken wie die Schläge auf einen Gong.
»Los, mach was! Sie sind noch nicht sicher, ob du mit ihnen fertig werden, aber ich! Also beenden Spielereien und fangen endlich an! Hören? Das nicht witzig! Gefahr! Eric, konzentrier dich!«
Eric bemerkte, dass er wie berauscht war. Es war einfach so unreal, so unglaublich und komplett unmöglich. Er hatte sich in einen Drachen verwandelt und jetzt flog er mit seinem Freund in der Hand mühelos über einen Wald. Er hatte Jack verstanden und wusste, dass der recht hatte. Eric sah sich kurz um, doch da waren keine Wächter mehr zu sehen. Jack las seine Gedanken.
»Ich sagen ja, du zu langsam! Sie können verschwinden und dann wieder da sein! Sehen nach vorne! Ich hoffen, du haben Feuer unter Arsch …!«
Noch bevor Jack zu Ende gedacht hatte, spürte Eric eine minimale Veränderung des Luftdrucks, etwa vierhundert Meter vor ihnen. Er sah sofort hin, erkannte die Wächter und ihre Augen sahen direkt in seine. Rot leuchtend und ausdruckslos steckten sie in gesichtlosen Köpfen, welche unscharf wie von dunklem Rauch umgeben schienen. Aber er konnte nichts spüren, sie schienen ihm nicht zu schaden. Kaum eine Sekunde später drehte er sich reflexartig auf die Seite und wich ihnen knapp aus, wendete geschmeidig. Er versuchte, sie mit seinen Augen so festzunageln, wie der Drache auf der Eislandschaft es mit ihm gemacht hatte. Und mit einem Mal las er ihre Gedanken und inneren Muster, er verstand sie einfach. Es waren nur zwei Absichten:
»Nehmt ihn. Tötet den Drachen.«
Offensichtlich hatte Jack Erics Gedanken gelesen, denn er erbrach reflexartig und hatte kaum noch Körperspannung in sich, weshalb Eric wieder fester zupacken musste, ehe er sich mit aller Kraft auf das Feuer in seinem Inneren konzentrieren konnte. Es war wie ein kurzes, unbekanntes Würgen, fast zwanghaft öffnete Eric das Maul und schoss den Wächtern vor sich eine enorme Flut sprudelnden Feuers entgegen. Zwei von ihnen gingen in Flammen auf und stürzten trudelnd in den Wald. Die anderen vier kamen so schnell näher, dass Eric nicht lange wartete: Einem Instinkt folgend, der ihn wissen ließ, dass noch viel mehr möglich war, holte er tief Luft und spie einen dichten Strahl blendend heller Flamen auf die restlichen Geschöpfe, die von der Hitze dieser leicht blau schimmernden Plasma-Erscheinung wie kleine Fliegen zerplatzten. Eric schloss die Augen bei dem Anblick, um nicht alles von ihren Innereien sehen zu müssen, musste aber sofort feststellen, dass er den Geruch und das Empfinden für das Geschehen so nicht blockieren konnte. Der unbekannte und faule Gestank kribbelte in seinen Nüstern und er konnte ihn schmecken, spürte plötzlich einen enormen Hunger. Eric horchte und wartete, ob er vielleicht noch ein paar Wächter hinter sich hatte. Doch nichts war mehr zu spüren, bis auf den keuchenden und kreidebleichen Chinesen in seiner Faust. Eric flog einen halben Looping, drehte sich dann wieder mit dem Bauch nach unten und glitt langsam auf den Strömen des atmenden Waldes zurück zur Wiese. Eric hatte noch nie gemerkt, dass der Wald atmete. Er hatte sich noch nie so frei gefühlt. Und noch nie hatte er sich solche Sorgen um Jack gemacht, der gerade bewusstlos wurde.
Ein leichter Ruck ging durch seine gewaltigen Muskeln, als er nach kurzem Schweben auf den Hinterbeinen landete. Kurz stand er aufrecht da, überblickte die große Wiese und die anliegenden Felder. Dann ließ er sich vorsichtig auf alle viere fallen, stützte sich mit seiner Linken ab und legte Jack ins Gras. Der sah sehr krank aus. Eric las Jacks völlig orientierungslose Gedanken und spürte besorgt, welche Schmerzen er empfand. Vielleicht hatte Jack sich beim Erbrechen verletzt oder sich während des Fluges was gebrochen. Oder - Erics Drachenherz machte einen Sprung - hatte auch Jack den Wächtern in die Augen gesehen? Eric wusste nicht, was er tun musste oder was überhaupt geschehen würde, falls das so wäre. Er bereute immer mehr seine Unwissenheit, verdammte sich dafür, nicht wie Jack bei Mia gelernt zu haben. Er senkte seinen großen Kopf, roch an Jack. Angstschweiß und Erbrochenes, hunderte anderer Noten und Aromen, sogar das warme Blut in seinen Adern. Eric zog die empfindliche Schnauze zurück, verdrängte müde das Gefühl des Hungers und unterdrückte irritiert den Drang, den kleinen, warmen Körper mit der Zunge zu untersuchen. Schließlich legte er sich hin, ringelte Jack mit seinem Schwanz ein, damit er es warm hatte und legte den Kopf auf die großen Pranken. Vorsichtig grub er die Klauen in die kühle, feuchte Erde der Wiese und zuckte zusammen, als der Tastsinn sein Bewusstsein mit den Bewegungen unzähliger Wesen überflutete, welche sich in der Erde, zwischen den Grashalmen der Wiese und überall um sie herum bewegten.
Hatte er Jack verletzt? Er war wirklich unvorsichtig gewesen, hatte vielleicht zu lange gespielt. Was hatten die Wächter gewollt? Den erhaschten Absichten nach Jack nehmen und den Drachen töten wollten. Warum? Ein grimmiges Knurren entwich Erics Kehle, er öffnete die Flügel und drehte sie in die tief stehende Sonne. Wie kamen sie darauf, einem kleinen Menschen etwas antun zu müssen? Er stellte keine Bedrohung dar. Eric hob den Kopf. Seine Art zu denken hatte sich auch verändert. Er stellte fest, dass er alle Zweifel verloren hatte. Nicht verwunderlich nach dem, was gerade gewesen war. Er sah Jack wieder an, den er mit seinem Schwanz fest umschlungen hielt, wie eine Würgeschlange ihre Beute. Er hatte gar keine Probleme gehabt, sich in den Drachen hineinzuversetzen und dessen Gestalt anzunehmen. Er konnte es einfach, es war wie angeboren, mehr noch, es erschien wahrhaftig. Und er hatte einen Schwanz! Irgendwie kam ihm das komisch vor, das befremdliche Gefühl, dass die Wirbelsäule nicht einfach am Hintern endete und der Körper überhaupt so anders war. Er bewegte ihn belustigt auf und ab, wiegte Jack und konnte sein Gewicht doch nicht merken. Nur erahnen, Eric spürte Jacks Lebenszeichen, wie sich ihre deutlichen Schwingungen von den tief schwarzblauen Schuppen verstärkt durch den eigenen Körper bewegten. Da regte sich sein Freund. Jack hustete und keuchte, sein Gesicht sah in der frühen Dämmerung noch gruseliger aus als zuvor. Eric ließ ihn nicht los, beugte sich mit dem langen Hals über ihn und bohrte seinen Blick in ihm fest, während er unwillkürlich schnüffelte.
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