Das Loch im Boden war allzu leicht zu übersehen. Es maß im Durchmesser ungefähr einen dreiviertel Meter. Jetzt lag die Holzscheibe neben dem Eingang. Mirko Harnisch fühlte seine Schläfen pulsieren, als er sich der schwarzen Öffnung näherte. Sein Herz schlug rasend. Die rechte Hand verkrampfte sich um die Stabtaschenlampe. Der Blick drang in den schmalen Abgrund, konnte in der dort herrschenden Dunkelheit aber nichts erkennen. Die Deckenbeleuchtung vermochte die enge, mehrere Meter nach unten führende Höhle nicht zu erhellen. Kurz überlegte er, was er dort zu sehen erwartete. Er fand keine Antwort und schaltete die Taschenlampe ein. Der fokussierte Lichtstrahl glitt über die unbearbeitete Wand in die Tiefe. Er beugte sich über die Öffnung. Das Licht erreichte ebenen Sand, den Boden der Höhle.
Der Blick auf die verzerrte Grimasse traf Harnisch wie ein Schlag in den Magen. Der Strahl fiel auf eine blutige Masse, die einmal ein Gesicht gewesen sein musste. Entsetzliche Verstümmelungen nahmen ihm alles Menschliche. Die fehlenden Lippen gaben ihm einen furchtbaren Ausdruck, der an ein teuflisches Grinsen erinnerte. Die Nase war als blutiger Brei in der Mitte des Kopfes nur noch zu erahnen. Die Ohren fehlten ebenfalls. Das Schrecklichste aber waren die leeren Augenhöhlen.
Schwer atmend kämpfte Harnisch mit aufkommender Übelkeit. Die Gedanken überschlugen sich. In seinen Emotionen vermischte sich der Ekel mit hämmernder Angst. Was war hier geschehen? Wer war in der Lage, so etwas zu tun?
Warum?
Widerwillig, aber von dem Drang getrieben alles zu sehen, richtete er die Lampe nochmals in die schwarze Leere. Erneut überkamen ihn Abscheu und Brechreiz beim Anblick der entstellten Leiche. Zitternd umklammerte er die Taschenlampe. Der Lichtkegel hüpfte in der Frequenz seines Zitterns. Er erkannte Kleidung und nackte Haut. Das Blut darauf war von Sand und Schmutz zu Klumpen geformt.
Ein Geräusch war leise, aber hörbar. Die Erkenntnis, möglicherweise nicht alleine im Gewölbe zu sein, ereilte ihn plötzlich und unvorbereitet. Lähmende Todesangst ließ klares Denken unmöglich werden. Der Laut schien von der Treppe zur Halle gekommen zu sein.
Dann war es auch nicht der Wind, der die Tür zufallen ließ.
Wie lange beobachtete die unbekannte Person ihn schon? Die Gedanken überschlugen sich. Angst rann als kalter Schweiß langsam seinen Rücken hinab. Der einzige Ausweg führte jetzt über die Stahltür in den Hof.
Bitte Gott, was auch immer hier passiert, lass mich entkommen. Ich will so nicht sterben.
Während er mit verzweifelter Schnelligkeit die Tür erreichte, schaute er kurz zurück. Er sah den Schatten im Halbkreis der Kellertreppe, der sich ohne Hast zu nähern schien. Instinktiv griff Harnisch den passenden Schlüssel und drehte ihn hastig herum. Während er die schwere Tür nach außen drückte, blickte er wiederum hinter sich. Im ersten Raum des Verlieses bewegte sich etwas Schwarzes in seine Richtung. Er zwängte sich durch die zur Hälfte geöffnete Tür nach draußen. Im gleichen Moment schob er sie mit ganzer Kraft zurück ins Schloss. Schnell verriegelte er sie, um anschließend abwartend zu verharren. Kein Laut war zu hören.
Die Regenwolken hatten sich vom dunklen Himmel verzogen. Nur von den Zweigen der Bäume fielen noch Wassertropfen. Er sah kaum seine eigenen Schuhe in der Schwärze, traute sich aber nicht, die Lampe zu benutzen. Endlich hatte er das Gefühl, wieder eine Chance zu haben, klar denken zu können. An dem großen Bund in seiner Hand war neben den Schlüsseln der Burg auch sein Autoschlüssel befestigt. Nur das Burgtor und der kurze Weg durch den Wald trennten ihn von seinem Wagen. Er konnte es schaffen. Nein, er musste es schaffen. Leise und zügig bewegte er sich auf das große Portal zu. Kurz bevor er das Holztor erreichte, hielt er inne. Für einen Moment hatte er geglaubt, Schritte zu hören.
Unsinn, unmöglich.
Alles blieb still. Einzig von den Blättern einer großen Eiche fielen in rhythmischer Folge Wassertropfen hinab. Am Tor angelangt, versuchte er schnell das Schloss zu öffnen, wählte aber diesmal den falschen Schlüssel. Auch der zweite passte nicht in das geschmiedete Schloss. Das Zittern der feuchten Hände nahm erneut zu. Alle Schlüssel sahen in der Dunkelheit so gut wie gleich aus. Während er weiter versuchte, den Richtigen zu finden, entglitt ihm das große Bund und fiel metallisch klirrend auf die Steine. Er entschloss sich, kurz die Taschenlampe zu Hilfe zu nehmen und betätigte den Schalter.
Beeil dich, schneller.
Die Schlüssel lagen unmittelbar vor seinen Füßen. Er hob sie nicht mehr auf. Die Einsicht, nicht schnell genug gewesen zu sein, hatte etwas grausam Existenzielles. Im Lichtschein erkannte er deutlich den Schatten der massiven Gestalt hinter sich. Sein Herz schien stehen zu bleiben. Während er sich umdrehte um davonzulaufen, fiel ein kurzer Blick auf den, der ihn tötete. Mirko Harnisch blieb kein Hauch einer Chance, dem blitzartigen Stoß auszuweichen.
Unbeschreibliche Schmerzen breiteten sich in seiner Brust aus. Das rostige Metall, das jetzt aus seinem Oberkörper ragte, kam ihm bekannt vor. Es erinnerte entfernt an die Form eines Korkenziehers. Blut lief warm über sein T-Shirt und tropfte auf die regennassen Steine. Schwindel breitete sich hinter seinen pochenden Schläfen aus. Er torkelte. Das Herz schlug weiter, als wolle es das Ende nicht hinnehmen. So einsam wie in diesem Augenblick hatte er sich noch niemals gefühlt. Mühsam drehte er sich um, vergeblich nach Rettung suchend.
Mit einem Mal starrte er in kalte, teilnahmslose Augen ohne Gesicht, in denen weder Wahnsinn noch Mitleid zu erkennen waren. Gleichsam war ein Leuchten darin. Menschliche Züge schienen dagegen ausradiert worden zu sein. Sie musterten ihn als ein Stück Fleisch, annähernd gelangweilt und ohne Reue. Beiläufig wurde er an die Mauer gedrückt. Mit einem Ruck riss ein schwarzer Handschuh an dem Instrument, das schrecklich vulgär aus ihm ragte. Kraftvoll sprudelte das Blut aus der Mitte seiner Brust. Eine Frage, die er sich einmal in der Kindheit gestellt hatte, zuckte durch sein Gehirn.
Wie viel Blut ist in einem Menschen?
Die Antwort verteilte sich in einer ständig größer werdenden Lache vor ihm, versickerte bereits zwischen den nassen Fugen der Steine. Seine letzten Atemzüge fühlten sich heiß und schwer an. Schließlich ließ die blutgefüllte Lunge das Atmen unmöglich werden.
Einmal streckte er noch den Arm aus, als wollte er fragen: »Warum ich?«, doch ungerührt wandte sich sein Mörder ab, lief mit ruhig kontrollierten Schritten zur Burg zurück. Aus seiner geballten Faust ragte noch die skurril gedrehte Klinge, mit der er wenige Momente zuvor den jungen Studenten getötet hatte. Braun-rot vermischte sich die Farbe des Rostes auf dem alten Metall mit frischem Blut. Nach jedem zweiten Schritt der Silhouette löste sich ein roter Tropfen und fiel auf den Hof.
Als Harnischs Beine nachgaben, fühlte er schon keine Schmerzen mehr. Der Himmel war fast klar, offenbarte helle Sterne, deren ewig gleicher Anordnung die Menschen den Namen Großer Wagen gegeben hatten. Es war das Letzte, was er sah. Sein erlöschendes Bewusstsein ließ ihn noch erkennen, dass, wenn der Morgen anbräche, er nicht mehr auf dieser Welt sein würde. Die unbeweglichen Himmelskörper nahmen keinen Anteil an seinem irdischen Leid. Scheinbar neutral, doch voller Trost blickten sie auf den sterbenden Menschen. Um ihn breitete sich helles Licht aus. In Leichtigkeit schien er zu schweben. Dann fühlte er gar nichts mehr.
Als kurze Zeit später in seinem Zimmer im Turm das Licht gelöscht wurde, lag in der Dunkelheit nur noch ein aufgerissener Körper auf blutnassen Steinen.
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