Beklommen ging sie in ihr Zimmer und schloss die Tür. Sie hielt das Jan Mayen -Heft auf dem Schoß, aber die Lust zum Lesen war ihr vergangen. Mehr Tod? Diesmal bloß in Grün? Danach stand nicht ihr Sinn.
Olga Tschechowa inkognito
Freitag, 10. März 1944
Am Tag nach dem verheerenden Luftangriff auf den Süden Berlins brummte die Wehrmachtauskunftstelle wie ein Bienenstock. Selbst die Tagesmeldungen des Oberkommandos der Wehrmacht, die täglich um 12 Uhr vom Rundfunk ausgestrahlt wurden, erwähnten ihn mit wenigen Worten. Mara und die anderen hatten kaum eine ruhige Minute. Ständig kamen neue Meldungen herein. Fernmündlich übermittelte Listen sollten getippt und versandt werden. Mehrmals musste sie selber in Thüringen anrufen, um Namen und Truppenteile zu überprüfen, weil die durchgegebenen Informationen offenkundig unvollständig oder Familiennamen falsch geschrieben waren. Pausen gab es heute keine. Die Schnatterer war kaum aus ihrem Büro herausgekommen. Stabsfeldwebel Sauerland hatte bei der Anfertigung von Listen für Saalfeld geholfen, die am Nachmittag per Boten abgeholt worden waren.
Mit Manfred hatte sie nur einige Blicke gewechselt. Nicht einmal einen guten Morgen hatten sie sich wünschen können. Er schien früher in die Dienststelle gegangen zu sein, vielleicht wollte er die Fehlzeit vom Vortag wettmachen, obwohl er ja durch den Angriff entschuldigt gewesen war.
Vater hatte sie gar nicht zu Gesicht bekommen. Das Stellwerk konnte gegenwärtig auf direktem Wege nicht erreicht werden, daher war er in den frühen Morgenstunden los, um rechtzeitig von einem Arbeitstrupp der Reichsbahn mitgenommen zu werden. Es war unklar, wann die Schicht enden und wie er dann heimkommen würde.
Es war abermals kurz nach 18 Uhr, als sie die Dienststelle verließ. Die Straßen waren leer, als seien die Menschen vorsorglich gar nicht erst aus der Wohnung gegangen. Den ganzen Tag war es ruhig geblieben. Keine Luftwarnung, kein Fliegeralarm.
Körperlich ermattet, aber geistig heftig nachdenkend schlurfte sie heim. Am Kriegerdenkmal an der Meierottostraße verweilte sie und sog langsam die Abendluft ein. Es fühlte sich wärmer an als gestern, einen Hauch nur, und sie hörte in den nahegelegenen Bäumen die Vögel zwitschern. Untrügliche Vorboten des lebenspendenden Frühlings, die den alltäglichen Gefahren Hohn sprachen.
Sie legte ihre Tasche neben sich und ließ die Handflächen auf dem kühlen Gestein des Denkmals ruhen, auf dem sie saß. Dann schloss sie die Augen und stellte sich vor, dass sie sie an einem gänzlich anderen Ort wieder öffnen würde. Sie saß nun auf den Stufen eines alten Tempels, vielleicht einer Pyramide, die Marsbewohner einst gebaut hatten. Vor sich ein dicht bewaldetes Hochtal, durch das sich ein Fluss schlängelte, blau glitzernd unter dem rötlichen Himmel des Mars. Dort gab es keine Vögel, aber zwitschernde Grashüpfer, die aus den Spalten des Gemäuers um sie herumsprangen und in das Gras eintauchten, das sich langsam über die alten Steinbauten ausbreitete. Die Marsianer hatten den Planeten längst verlassen und waren auf riesigen, gasgetriebenen Himmelsflügeln in die Weltenräume vorgestoßen, um auf der Erde eine neue Heimat zu finden. Dort nannte man sie fortan Mayas. Warum das geschehen war, wusste niemand mehr zu sagen, denn alle waren fort. Mara sinnierte ganz allein unter einem purpurroten Himmel. Immer tiefer sank sie in ihre Träume und entspannte sich – bis Hupen und rasselndes Dröhnen sie aufschreckte. Als sie die Augen aufriss, war sie von Dämmerung umgeben, die von einigen entfernten Straßenlaternen erhellt wurde. Sie musste eingenickt sein. Eine motorisierte Infanteriekolonne kam aus der Spichernstraße und enteilte nach Süden.
Seufzend erhob sie sich und griff ihre Tasche. Die Phantasie war vorüber und sie lockerte den Kragen ihres Mantels, unter dem sie schwitzte.
Den Rest des Weges lief sie schweigend. Alle Fenster in der Fasanenstraße schienen dunkel, vielfach waren die Vorhänge zugezogen. Niemand hatte Lust, aufgrund eines tatsächlichen oder nachgesagten Verstoßes gegen die Verdunkelungsvorschriften belangt zu werden. Im Flur von Haus Nummer 59 roch es nach Reibekuchen. Es mochten auch Bratkartoffeln sein. Die Tür der Butzkes stand offen, aus dem Hintergrund hörte man Gespräche, niemand war zu sehen. Die Wohnung der Martens darüber lag verwaist, beim Professor und der Bibliothekarin wie bei den Winklers brannte Licht, hier schien alles normal. Nicht einmal ein Schatten war hinter dem Milchglas auszumachen.
Vater war nicht da und, wie Mara gerade eben die Stille nach dem turbulenten Tag genossen hatte, drückte sie ihr nun unangenehm und belastend auf die Seele. Zu nah war ihr die Sorge von gestern Abend, denn was würde sie tun, falls er tatsächlich fortblieb? Und nicht mehr wiederkäme? Nicht auszudenken.
Im Radio hörte sie sich die neuesten Meldungen an, die für den Großraum Berlin heute keine Angriffe berichten mussten.
Sie hielt es in der Stille nur einige Minuten aus, zog sich den Mantel wieder über und beschloss, wenigstens bis 20 Uhr einmal die Fasanenstraße auf und ab zu gehen.
Ordentlich verschloss sie die Wohnung und schlich den Hausflur hinunter. Jetzt war die Tür der Butzkes geschlossen und als sie unter den Bäumen die ersten Schritte machte, fühlte sie sich viel freier als oben.
Zunächst wandte sie sich nach links und ging runter bis zur Pariser Straße. Dieser Weg erinnerte sie zu sehr an den Weg zur Dienststelle, also kehrte sie um und schlenderte bis hoch zum Fasanenplatz. Dort ließ sie den matter werdenden Abendhimmel auf sich wirken. Für einen Moment bemerkte sie eine Bewegung in einem der Büsche, ein großes Tier vielleicht. Eine fette Ratte? Sie entschied sich, dass ihr Bedarf an Aufregung für heute gedeckt war und ignorierte das Ereignis. Dann flanierte sie wieder zurück und wechselte auf die linke Straßenseite.
Sie hatte soeben Hausnummer 60 passiert und war aus dem Lichtkegel der Laterne getreten, als hinter ihr eine Haustür krachend ins Schloss fiel. Mara blieb erschrocken stehen und drehte sich um. Eine Dame stand auf dem Treppenabsatz und zündete sich eine Zigarette an. Prüfend schaute sie in den Himmel, dann zog sie seelenruhig ein Tuch aus ihrer Handtasche und entfaltete es, um es sich um den Kopf zu schlingen und unter dem Kinn leicht zusammenzubinden. Mara blieb stehen und sah die Frau an. Sie war auf eine aufregende Art schön. Dezent geschminkt, fein gezeichnete Augenbrauen und eine sehr gerade Nase prägten das Gesicht. Dazu ein apart geformter Mund, der hastig einen Zug aus der Zigarette nahm und genüsslich den Rauch entweichen ließ. Die Person wirkte wie in die Welt gefallen, sie passte nicht zur Fasanenstraße, aber es waren nicht ihr Kamelhaarmantel oder die hellbraunen Lederhandschuhe, die sie überstreifte. Die Sonnenbrille, die die Frau sich trotz der einbrechenden Nacht auf die Nase schob, bewirkte das Gegenteil von Schutz – sie fiel auf und Mara kannte sie irgendwoher. Die Dame im Mantel lief los und schritt in nördliche Richtung. Dorthin, wo das Mädchen soeben herkam. Einem Instinkt gehorchend folgte sie ihr.
Irgendetwas ließ sie vertraut wirken. Sie beobachtete ihre Art zu gehen und versuchte, sich in Erinnerung zu rufen, woher ihr die bekannt vorkam. Hier in der Fasanenstraße hatte sie sie ganz sicher nicht gesehen. Vielleicht an ihrem Fahrkartenschalter? Möglich, aber für gewöhnlich hinterließen die Reisenden keinen Eindruck, der ein Wiedererkennen ermöglichte. Doch diese Frau …
Als die Dame im Kamelhaarmantel in Höhe des alten knallroten Feuermelders auf dem Fasanenplatz für einen Moment stehenblieb, um im Licht einer Laterne die Uhrzeit zu prüfen, wusste sie es plötzlich: Das war eine Schauspielerin, Olga Tschechowa. Ganz sicher. Mara mochte sie gern und kannte viele ihrer Filme. Sie erwog, um ein Autogramm zu bitten, doch die Tschechowa war wieder losgelaufen, daher folgte sie ihr. Weiter ging es Richtung Norden, dann bog sie an der Bezirksverwaltung Wilmersdorf nach rechts in die Schaperstraße ein.
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