»Warum sollte ich nicht gehen?«
»Es scheint dort eine Gefahr auf Sie zu lauern.«
»Meinen Sie Gefahr von diesem Familiengespenst oder Gefahr von einem menschlichen Wesen?«
»Genau das werden wir herausfinden müssen.«
»Was immer es sein mag, meine Antwort darauf steht fest: Es gibt keinen Teufel in der Hölle und es gibt keinen Menschen auf Erden, der mich davon abhalten kann, in das Haus meiner Väter heimzukehren. Das ist mein letztes Wort.« Er zog seine dunklen Brauen zusammen und errötete leicht, während er sprach. Es war offensichtlich, dass das grimmige Temperament der Baskervilles in diesem letzten Spross noch nicht erloschen war. »Zwischenzeitlich hatte ich noch keine Gelegenheit, alles zu durchdenken, was Sie mir erzählt haben. Es ist nicht einfach, alles zu verstehen und gleichzeitig Konsequenzen zu ziehen. Ich sollte eine Weile in Ruhe darüber nachdenken. Mr. Holmes. Es ist jetzt halb zwölf und ich gehe direkt ins Hotel zurück. Wie wäre es, wenn Sie und Ihr Freund, Dr. Watson, gegen zwei zum Mittagessen herüberkämen? Ich kann Ihnen dann sicherlich besser verdeutlichen, welchen Eindruck diese Dinge auf mich machen.«
»Passt dir das, Watson?«
»Vollkommen.«
»Dann dürfen Sie uns erwarten. Soll ich Ihnen eine Droschke rufen lassen?«
»Ich ziehe einen Spaziergang vor, denn diese Affäre hat mich doch etwas nervös gemacht.«
»Ich werde Sie mit Vergnügen begleiten«, sagte Dr. Mortimer.
»Dann treffen wir uns gegen zwei Uhr wieder. Au revoir und schönen Tag!«
Wir hörten die Schritte unserer Besucher die Stufen hinabsteigen und das Schlagen der Haustür. Im Handumdrehen hatte sich Holmes vom müßigen Träumer zum Mann der Tat gewandelt.
»Hut und Schuhe, Watson, rasch! Wir haben keine Zeit zu verlieren!« Er rannte im Morgenrock in sein Zimmer und war nach wenigen Sekunden im Gehrock zurück. Wir eilten gemeinsam die Treppe hinab und auf die Straße. Dr. Mortimer und Baskerville waren noch zu sehen, wie sie in einer Entfernung von etwa zweihundert Metern in Richtung Oxford Street liefen.
»Soll ich rennen und sie anhalten?«
»Nicht um alles in der Welt, liebster Watson! Ich bin mit dir als Begleitung vollauf zufrieden, sofern du meine Gegenwart erträgst. Unsere Freunde sind sehr weise, denn es ist sicher ein herrlicher Morgen für einen Spaziergang.«
Er beschleunigte seine Schritte, bis wir den Abstand zu ihnen auf etwa die Hälfte verringert hatten. Dann folgten wir ihnen in die Oxford Street und die Regent Street hinunter, immer auf etwa hundert Meter Abstand achtend. Einmal blieben unsere Freunde stehen und betrachteten die Auslagen eines Schaufensters, woraufhin Holmes dasselbe tat. Einen Augenblick später stieß er einen zufriedenen Schrei aus, und als ich der Richtung seiner aufmerksam blickenden Augen folgte, bemerkte ich eine zweirädrige Droschke, in der ein Mann saß. Sie hatte auf der anderen Seite der Straße gehalten und fuhr nunmehr langsam weiter.
»Das ist unser Mann, Watson! Komm mit! Wir werden ihn uns mal genau anschauen, sofern wir nicht mehr tun können.«
In diesem Augenblick wurde ich auf einen buschigen, schwarzen Bart und einen stechenden Blick aufmerksam, der durch das Seitenfenster der Droschke auf uns gerichtet war. Sofort flog das Türchen auf dem Dach auf, dem Fahrer wurde etwas zugerufen und die Droschke raste eilig die Regent Street hinunter. Holmes blickte sich eifrig nach einer anderen um, doch war keine unbesetzte in Sicht. Dann stürzte er sich in wilder Verfolgung mitten in den Verkehrsstrom. Aber der Vorsprung war zu groß und die Droschke bereits außer Sichtweite.
»Da haben wir's«, sagte Holmes verbittert, als er keuchend und weiß vor Wut aus der Fahrzeugflut auftauchte. »Hatte ich je so ein Pech und solch eine Dummheit begangen? Watson, Watson, wenn du ein ehrenhafter Mann bist, wirst du auch hiervon berichten und es gegen meine Erfolge aufrechnen!«
»Wer war der Mann?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Ein Verfolger?«
»Nun, nach allem, was wir gehört haben, ist es offenkundig, dass Baskerville verfolgt wurde, seit er in London ankam. Wie sonst konnte es so schnell bekannt werden, dass er das Northumberland Hotel ausgesucht hat? Wenn man ihm am ersten Tag folgte, so bin ich davon ausgegangen, dass man ihm auch am zweiten Tag folgen würde. Vielleicht hast du bemerkt, dass ich zweimal zum Fenster gegangen bin, während Dr. Mortimer seine Erzählung vorgelesen hat.«
»Ja, ich erinnere mich.«
»Ich habe Ausschau gehalten, ob sich jemand in der Straße herumtreibt, aber niemanden gesehen. Wir haben es mit einem gerissenen Mann zu tun, Watson. Dieser Fall ist sehr ernst, und auch wenn ich mir noch nicht darüber im Klaren bin, ob es sich um einen wohlwollenden oder übelwollenden Menschen handelt, mit dem wir es hier zu tun haben, spüre ich doch hinter allem Kraft und Entschlossenheit. Als unsere Freunde uns verließen, bin ich ihnen sofort gefolgt in der Hoffnung, den unsichtbaren Begleiter stellen zu können. Er war so schlau, ihnen nicht zu Fuß zu folgen, sondern sich eine Droschke zu nehmen, mal hinter ihnen her zu schlendern, mal vorneweg zu fahren und so ihrer Aufmerksamkeit zu entgehen. Seine Methode hatte den zusätzlichen Vorteil, dass er auch in der Lage war, ihnen zu folgen, sollten sie eine Droschke besteigen, doch sie hatte auch einen offenkundigen Nachteil.«
»Er lieferte sich dem Kutscher aus.«
»Genau.«
»Wie schade, dass wir nicht die Droschkennummer notiert haben!«
»Mein lieber Watson, wie ungeschickt ich auch gewesen sein mag, du kannst doch nicht ernsthaft glauben, dass ich so nachlässig war, mir nicht die Nummer zu merken? 2704, das ist unser Mann. Aber im Moment ist das für uns nutzlos.«
»Ich kann nicht erkennen, was du sonst noch hättest tun können.«
»Als mir die Droschke aufgefallen war, hätte ich auf dem Punkt kehrt machen und in die andere Richtung laufen müssen. Dann hätte ich in Ruhe eine zweite Droschke mieten und der ersten in respektvollem Abstand folgen sollen. Oder, noch besser, zum Northumberland Hotel fahren und dort warten sollen. Nachdem unser Unbekannter dann Baskerville ins Hotel gefolgt wäre, hätten wir die Gelegenheit gehabt, sein Spiel mit ihm zu spielen und ihm unsererseits zu folgen. Aus unserem Übereifer hat unser Gegenspieler seinerseits mit außerordentlicher Geschwindigkeit und Energie seinen Vorteil gezogen, wir haben uns selbst verraten und ihn verloren.«
Während dieser Unterhaltung waren wir langsam die Regent Street hinuntergeschlendert und Dr. Mortimer sowie sein Begleiter waren längst verschwunden.
»Es hat keinen Zweck, ihnen weiter zu folgen«, sagte Holmes, »ihr Schatten ist verschwunden und wird nicht zurückkommen. Lass sehen, welche Karten wir noch in Händen halten, und sie dann mit Entschlossenheit ausspielen! Könntest du das Gesicht des Mannes in der Droschke beschreiben?«
»Mit Sicherheit nur den Bart.«
»So geht es mir auch, woraus ich schließe, dass es sich mit aller Wahrscheinlichkeit um einen falschen Bart handelt. Ein so gerissener Mann mit einem so heiklen Auftrag braucht keinen solchen Bart, sofern er sich nicht dahinter verbergen will. Komm hier herein, Watson!«
Er betrat ein Büro der Bezirksbotengesellschaft, wo er herzlich vom Büroleiter begrüßt wurde. »Ah, Wilson, wie ich sehe, haben Sie den kleinen Fall nicht vergessen, in welchem ich das Glück hatte, Ihnen helfen zu können!«
»Nein, Sir, das habe ich tatsächlich nicht. Sie haben meinen Ruf gerettet und vielleicht mein Leben.«
»Lieber Mann, Sie übertreiben. Meiner Erinnerung nach haben Sie unter Ihren Boten einen Jungen namens Cartwright, der sich während der Untersuchung als recht geschickt erwies.«
»Ja, Sir, er ist noch bei uns.«
»Könnten Sie ihn holen? Vielen Dank. Und könnten Sie mir freundlicherweise diese Fünf-Pfund-Note wechseln?«
Читать дальше