Hannah hatte wirklich Hunger. Es war bereits fast Mittag und sie hatte vor lauter Aufregung vergessen zu essen. Ihr Magen knurrte vernehmlich. Alle drei lachten.
„Dann beeile ich mich mal. Scheinbar ist der Hunger größer als geglaubt.“
Als Andrea den Tisch verlassen hatte, beugte sich Onkel Toni interessiert über den Tisch: „Also Hannah, was erwartest du in Walding zu finden?“
Ja, was wollte sie hier. „Das weiß ich im Moment eigentlich auch nicht so genau. Ich … ich suche einen Platz zum Bleiben. Und vielleicht auch etwas Arbeit.“ Hannah legte ihre Hände in ihrem Schoß zusammen und blickte nachdenklich darauf.
„Wie sollte der Platz zum Bleiben denn aussehen?“
„Ein einfaches Zimmer würde reichen.“
„Du hast ja inzwischen bemerkt, dass wir es hier reichlich ländlich haben. Bist du dir sicher?“
„Nein. Ja. Ich weiß es noch nicht. Das lasse ich mal auf mich zukommen.“ Hannah setzte an: „Du musst verstehen, dass ich dort, wo ich bisher war, einfach nicht mehr bleiben konnte.“
„Verstehe. Ganz gut sogar. Walding ist ein herrlicher Ort, um neu zu starten. Du wirst sehen, es gibt viele tolle Plätze in unserem Ort. Und er hat den wirklichen Wohlfühlfaktor. Ich stell‘ dir gleich mal jemanden vor. Marie. Komm mal her.“
Eine zierliche junge Frau mit schulterlangen braunen Haaren drehte sich zu ihnen um und freute sich, sie zu sehen.
„Onkel Toni, was gibt’s Neues?“
„Marie, dass ist Hannah. Sie ist gerade hier bei uns gestrandet.“
„Hallo, woher kommst du?“
„Aus …“
Onkel Toni unterbrach sie: „Von weit her. Aber das ist nicht so wichtig.“
„Dein Auge sieht schlimm aus. Möchtest du eine kühlende Creme auftragen, dass es besser wird? Ich habe in der Handtasche immer Ringelblumensalbe. Das lindert etwas.“
„Danke, aber das ist nicht nötig. Das wird schon wieder.“
„Aber es ging schneller mit Salbe. Warte, ich streiche sie dir vorsichtig auf.“
Hannah wusste gar nicht, wie ihr geschah. Sie war noch keine Stunde in dem Ort und jeder kümmerte sich um sie, als ob sie sich schon ewig kannten.
„Also, ich wohne auf dem Bauernhof beim Ortseingang. Ich würde mich freuen, wenn du mich besuchen kommst, sobald du dich eingerichtet hast. Wo wirst du wohnen?“
„Ich habe noch keine Ahnung.“ Marie hob verwundert beide Augenbrauen.
„Ich denke, beim Simon wird das passen“, meldete sich Onkel Toni zu Wort.
Maria blickte erstaunt auf. „Beim Simon? Weiß er das auch schon?“
„Nein, aber er kann mir das ja nicht abschlagen.“
„Wenn der Simon dich nicht bei sich wohnen lässt, kommst du zu uns auf den Hof.“ Maria drückte freundschaftlich Hannahs Hand.
„Danke, aber das kann ich nicht annehmen. Du kennst mich ja nicht.“
„Dann gib uns eine Chance, uns kennenzulernen. Jetzt muss ich leider los. Thomas wartet auf sein Essen. Aber das nächste Mal sprechen wir ausführlicher.“ Maria beugte sich über den Tisch und drückte Hannah liebevoll an sich. „Tschüss, Onkel Toni. Tschüss, Hannah.“
„Tschüss.“
„Was möchtest du denn arbeiten?“, fragte Onkel Toni.
„Ich habe Konditorin gelernt. Und es hat mir immer Spaß gemacht, etwas zu backen.“
„Konditorin? Ich engagiere dich sofort!“ Andrea hatte den letzten Satz gehört und klinkte sich sofort ins Gespräch, als sie einen Teller mit Aufstrichbroten vor Hannah abstellte. „Was immer zu backen möchtest, ich bezahle dich dafür. Meine bisherige Lieferantin ist umgezogen und ich suche dringend jemanden, der mir fürs Café bäckt.“
Hannah blickte ihr Gegenüber verwirrt an. „Ist das Ihr Ernst?“
„Sag‘ doch nicht Sie zu mir. Wir sind hier alle per Du. Und ja, es ist mein Ernst. Meine Kunden sind auch ganz unkompliziert. Hauptsache süß. Mit und ohne Obst. Mit und ohne Schlagobers. Ich wäre für jeden trockenen Gugelhupf dankbar. Bitte, Hannah, sag ja.“
Hannah blickte nur verwirrt zwischen Andrea und Onkel Toni hin und her. Es sah so aus, als ob sich doch etwas zum Guten wenden könnte. „Ja, ich suche mir jetzt mal eine Bleibe und dann würde ich gerne auf dich zurückkommen und ich hoffe, dass wir uns irgendwie einig werden.“ Hannahs Wangen färbten sich rot. Dies war ihr erstes Bewerbungsgespräch und sie hatte sich kaum vorbereitet und schon sollte es vorbei sein.
„Das mit der Bleibe habe ich schon geregelt.“ Verwirrt blickten die beiden Frauen Onkel Toni an.
„Sie kann bei Simon bleiben.“
„Simon? Hast du ihn gefragt? Ich weiß nicht, ob das das richtige ist.“ Unsicher zog Andrea die Augenbrauen hoch.
„Sicher. Der weiß zwar noch nichts von seinem Glück, aber es ist zu seinem besten. Wir fahren dann gleich mal zu ihm hoch.“
„Ich muss noch bezahlen.“
„Aber nein, das geht aufs Haus. Schließlich freue ich mich auf deine Backergebnisse. Du lebst dich ein und wenn du so weit bist, kannst du gerne mal eine Kostprobe backen. Ich habe hinten eine kleine Küche, darin lässt sich sicher problemlos etwas zaubern. Und dann machen wir es uns beide aus.“
„Ich weiß nicht, ob es richtig ist, zu diesem Simon zu fahren. Gibt es denn keine anderen Zimmer, die ich mieten könnte?“ Hannah war von den Blicken von Andrea verunsichert. Scheinbar war es für Simon nicht in Ordnung, dass Hannah bei ihm wohnen sollte. „Hat er überhaupt ein Zimmer zu vermieten? Was tue ich, wenn ihm das nicht passt?“
„Mach dir doch nicht so viele Gedanken. Wir fahren jetzt mal hin und du wirst sehen, es wird sich fügen. Der Simon ist ein guter Kerl, aber er hat halt viel Arbeit und ist ganz alleine auf seinem Hof. Und mit seinen Ziegen ist er eben auch ein wenig ein Außenseiter.“
Hannah fügte sich die Informationen im Kopf zusammen. Bauernhof. Etwas abseits. Ziegen. Außenseiter. Simon.
„Wir fragen ihn, ob du nicht in dem Zubau wohnen kannst, den er damals für seine Mutter gemacht hat. Der steht eh schon seit zwei Jahren leer. Und da gehört eh Leben in die Bude. Da hättest auch deine eigene Küche. Es ist zwar klein, aber ihr würdet getrennt sein. Da kann er fast nichts dagegen haben.“
Onkel Toni packte die Reisetasche in einen klapprigen Opel. Ohne Kennzeichen. War dieses Fahrzeug überhaupt noch verkehrstauglich?
„Steig ein, Mädel. Es ist zwar nicht weit, aber ich bin zum Laufen zu alt.“
Unsicher ging Hannah zur Beifahrertür. Die klemmte.
„Fest ziehen.“ Mit einem Ruck öffnete sich die Tür und fast hätte sie Hannah in der Hand gehalten.
Ein schmaler Feldweg hinter der Kirche führte einen kleinen Hügel bergan. Obstbäume – jetzt Anfang Februar waren sie noch kahl - säumten den Weg. Nach einigen Minuten fuhren sie über eine kleine Kuppe in eine Senke. Ein Bauernhof, liebevoll restauriert, schmiegte sich an den Hang. Hühner liefen kreuz und quer. In einem Gatter liefen einige Ziegen auf und ab oder fraßen an der aufgebauten Heustelle.
Hannah fühlte sich wie in einem Heimatfilm. Es fehlte nur mehr der Alm Öhi, der bei der Tür herausschaute. Stattdessen parkte in dem kleinen Hof ein geländetauglicher Wagen, dessen Hecktür offen stand. Daran werkelte eine gut gebaute Gestalt. Er drehte sich mit Schwung um, als er den Wagen kommen hörte.
„Griaß di, Simon. Warst du erfolgreich am Markt?“
„Griaß di, Onkel Toni. Ja, ich kann nicht klagen. Die Sachen verkaufen sich gut in der Stadt.“
Hannah musterte verstohlen den Mann, von dem sie annahm, dass es dieser Simon sein musste.
„Du, Simon, wir haben ein Problem. Und du kannst uns helfen.“ Dieser Onkel Toni packte die Angelegenheit ganz schön ausgefuchst an. Hannah musterte ihr Gegenüber verstohlen. Muskulös, aber schlank. Das Gesicht vom Arbeiten im Freien sonnengebräunt. Er trug eine robuste Arbeitshose und feste Schuhe. Obwohl es an diesem Tag schon nach Frühjahr roch, war es doch relativ kühl und dennoch trug Simon nur ein Hemd und einen Pullover. „Bei uns ist die Hannah gestrandet. Sie kennt niemanden in der Gegend und braucht eine Bleibe. Und da habe ich an deinen Zubau gedacht, der ja derzeit leer steht.“
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