1 ...8 9 10 12 13 14 ...23 »Hat es geklappt?«, stand auf dem Display.
Er atmete tief durch. Dr. Mitchell, Magaret, er hatte sie total vergessen.
»Bin noch in einem Stück, muss aber die Geschwindigkeit drosseln«, tippte er, berichtete ihr von der Reise und schließlich von Chiyo und der Distel.
»Du weißt, was zu tun ist, wenn ich auffliege«, tippte er zuletzt.
»Ja«, antwortete sie, dann wurde der Bildschirm dunkel.
Nachdem Margaret sich ausgeklinkt hatte, betrachtete er die Distel genauer. Sie war vertrocknet, nicht ein Hauch ihrer lila Farbe war noch vorhanden und doch stand sie für seine Heimat. Sie war eins der Symbole Schottlands. Alles in ihm sträubte sich dagegen, sie zu vernichten. Vorsichtig zupfte er so viele der noch vorhandenen Samen ab wie möglich, und legte sie in eine kleine Dose, die er fest verschloss. Erst dann zerkrümelte er den Rest der Pflanze und spülte sie im Klo hinunter. Mit der Dose in der Hand ging er zu seinem Safe. Außer ihm wusste nur Magaret, dass dieser existierte. Wo er sich befand, hatte er ihr erst vor ein paar Tagen verraten. Nach dem, was heute passiert war, wurde es Zeit, ihr auch den Zugangscode zu übermitteln. Er loggt sich erneut in den abgeschirmten, unaufspürbaren Kanal ein, den er eigens für ihre Kommunikation geschaffen hatte, und übermittelte ihr kommentarlos die Daten. Sie würde wissen, was sie bedeuteten. Dann tippte er den Safecode in den Computer und ein komplizierter Mechanismus löste zwei Ziegelsteine aus dem Zierstreifen über dem Bett. Das Mauerwerk war ein Statussymbol, denn die Steine, die den schmalen Streifen formten, der alle Wände seiner Wohnung in einem bizarren Mosaik verzierte, waren kaum noch zu bezahlen. Niemand, der noch alle Tassen im Schrank hatte, würde ein solches Kunstwerk beschädigen. Daher war es auch der einzige Ort, der ihm sicher vorgekommen war. Er legte die Dose in die sich hinter den Ziegelsteinen befindende Lücke und nahm die Zeituhr heraus. Es dauerte eine Weile, bis er sie entschleunigt hatte, und obwohl es bereits spät in der Nacht war, holte er auch die zweite Uhr hervor, die in einem goldenen Armband verborgen war. Er wiederholte die Prozedur und wischte sich müde über das Gesicht. Wenn er aufflog, würde Magaret sie zumindest benutzen können, ohne dass ihr Magen durchdrehte. Er stand auf, legte die Uhren zurück in den Safe, verschloss ihn und zog sich aus. Obwohl seine Gedanken sich wie ein Kreisel um Chiyo, und die Möglichkeit entdeckt worden zu sein, drehten, fiel er in einen unruhigen Schlaf, sobald sein Kopf das Kissen berührte.
»Sie wollten mich sprechen, General?« Tammes trat mit mulmigem Gefühl in Chiyos Büro, schloss die Tür hinter sich und nahm Haltung an. Dass sie auf sein persönliches Erscheinen bestanden hatte, konnte nichts Gutes bedeuten.
Sie ignorierte ihn.
»Schicken Sie die Unterlagen auf dem sicheren Kanal zu Generalmajor Hauser, sie müssen unterschrieben werden«, wies sie jemanden über den Computer an. Dann stand sie auf und kam zu Tammes herüber, ohne ihn aufzufordern, sich zu rühren.
Er hielt den Blick auf die Wand gerichtet, während sein Herz wie verrückt schlug. Dass sie ihn so behandelte, war ein verdammt schlechtes Zeichen.
Chiyo umkreiste ihn wie ein Raubtier seine Beute. »Die Jahre haben Ihrem Körper nichts anhaben können, Oberst Duncan«, sagte sie und legte eine Hand auf seinen Oberarm.
»Was?« , dachte er verwirrt.
»Ich möchte sogar behaupten, dass Sie es geschafft haben, ihn weiter zu stählen und zu modellieren«, fuhr sie fort. Ihre Hand glitt über seine Armmuskulatur und blieb schließlich auf seiner Brust liegen.
»Was zum Teufel ...?« Tammes hielt ihre Hand fest.
»Ich habe Ihnen nicht gestattet, sich zu rühren, Oberst.«
Verwirrt ließ er ihre Hand los und nahm wieder Haltung an.
Chiyo holte tief Luft und legte ihm die Hand an die Wange. »Sieh mich an und küss mich endlich, du Idiot«, sagte sie heiser.
Überrascht wandte er den Blick von der Wand. Chiyos Lippen waren leicht geöffnet und ihre Augen dunkel. Sein Körper, der Verräter, reagierte sofort. Wider besseren Wissens vergrub Tammes sein Gesicht in ihren Haaren. Der Geruch beschwor Erinnerungen herauf. Chiyo seufzte und er vergaß alle Zurückhaltung. Er presste seine Lippen auf die ihren, zwang sie auseinander und erforschte ihren Mund. Er war ihm vertraut, aber nach der langen Zeit trotzdem fremd. Chiyo erwiderte seinen Kuss leidenschaftlich und drückte sich an ihn. Überrascht und erregt keuchte er. Das Gefühl der Lust, das ihn überrollte, war überwältigend, fühlte sich unglaublich gut an. Und gleichzeitig völlig falsch. Etwas stimmte nicht. Woher kam dieser plötzliche Sinneswandel? Er nahm all seine Willenskraft zusammen, gab ihren Mund frei und schob sie ein Stück von sich.
»Chiyo, Stopp! Sag mir, was los ist.« Schwer atmend sah er sie an.
Ihre Augen waren noch dunkler als vorher, schienen nur aus Pupillen zu bestehen. Sein Puls beschleunigte sich erneut. Er kannte diesen Blick, hatte ihn tausendmal gesehen, war jedes Mal von ihm in Brand gesetzt worden und anschließend in ihren Armen verglüht. Er schloss die Augen, um sich zu beruhigen, atmete tief ein, spürte wie sie sich von ihm entfernte, hob den Kopf und sah in die Mündung einer Waffe. Chiyo zielte damit auf seine Stirn.
»Verdammt, Tam!«, sagte sie heiser und außer Atem. Eine Träne lief über ihre Wange. »Wir hätten zum ersten Mal seit unendlich langer Zeit eine Chance auf eine gemeinsame Zukunft gehabt. Und was machst du? Du wirst nachlässig. Gesetzeswidrig handeln und nicht alles Menschenmögliche tun, damit es keine Spuren hinterlässt, ist vollkommen idiotisch. Das passt überhaupt nicht zu dir. Und nun sind wir beide in einer Situation, aus der es nur einen Ausweg gibt. Wegen einer schottischen Distel!«
Bevor er etwas erwidern konnte, drückte sie ab.
2019 • Wandertag, vier Monate später
Ich wärmte mir die Hände an meiner Kaffeetasse und sah aus dem Fenster. Vor mehr als einer Stunde war die Sonne über dem Loch aufgegangen. Ein atemberaubendes Schauspiel, von dem ich mich nicht hatte losreißen können und bei dem die Highlands, deren Gipfel inzwischen eine Schneehaube trugen, in ein mystisches, goldenes Licht getaucht worden waren. Wintersonnenaufgänge bekam ich nicht oft zu sehen, da ich mich um die Uhrzeit normalerweise noch im Land der Träume befand, doch heute war Tag eins meines neuen Manuskripts und ich hatte vor lauter Aufregung nicht schlafen können. Obwohl es mir regelrecht in den Fingern kribbelte, mit dem Schreiben anzufangen, hielt mich die schottische Natur gefangen. Also stand ich am Fenster, sortierte meine Gedanken und genoss es, alle Zeit der Welt zu haben. Mein Vorgarten war mit Raureif überzogen und es schien, als stünden der Natur vor Kälte die Haare zu Berge. Ein Eichelhäher mit türkisfarbenen Federn an den Flügeln ließ sich in einem der Vogelhäuschen nieder und verscheuchte dabei eine Meise, die davonflatterte und sich schimpfend auf einem Meisenring in Sicherheit brachte. Ich würde das Vogelfutter auffüllen müssen, denn jetzt erschien Mrs Red, ein Eichhörnchen, das sich seit ein paar Wochen täglich blicken ließ und nicht nur die für sie bestimmten Nüsse einsammelte, sondern auch die größeren Samen aus dem Vogelfutter abräumte.
Hinter mir erklang ein forderndes Maunzen und ich wandte mich vom Fenster ab. Mister Muh hatte sich von seinem Lieblingsplatz am Kamin erhoben und kam zu mir.
»Na, Mister Muh, Hunger?« Ich stellte die Kaffeetasse auf meinen Schreibtisch, setzte mich auf den Boden und streichelte ihn ausgiebig. Als er unruhig wurde, erhob ich mich, ging hinüber zur Kücheninsel und füllte seinen Napf. Während der Kater fraß, holte ich Kaffeetasse und Notizbuch vom Schreibtisch. Brainstorming beim Frühstück war angesagt. Die Melodie der schottischen Ballade, My Love Is Like a Red, Red Rose , vor mich hinsummend, öffnete ich den Kühlschrank. Seit ich bei einer Internetsuche zufällig darauf gestoßen war, ging mir diese Lyrik nicht mehr aus dem Kopf. Der Text des Lieds war von Robert Burns und sprach von einer unsterblichen Liebe. Auch wenn mir keine vergönnt war, vielleicht, weil ich aufgehört hatte, daran zu glauben, war es schön zu wissen, dass es andere taten. Mit Marmeladengläsern und Butterdose beladen trat ich an den Esstisch und warf dabei gewohnheitsmäßig einen Blick aus dem Fenster.
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