Antilius ging in die Hocke auf Augenhöhe.
Das Gesicht des Jungen. Seine Augen. Sie waren rot. Er erkannte Wrax darin wieder, auch wenn er diesen Namen nicht kannte.
»Wie ist das möglich?«
»Kinder wissen nichts über Gut oder Böse. Und lügen ist ihnen auch fremd. Sie haben keine Vorurteile und sind frei von Hass. So wie uns beide hat das Orakel diejenigen, die es für würdig hielt, mit letzter Kraft hierher gebracht. Und Wrax durfte wählen, als was er hier leben wollte. Es war seine Entscheidung. Vergiss nicht, wir sind in Verlorenend. Hier ist fast alles möglich«, sagte Tahera mit klangvoller Stimme.
Wrax zog an Antilius' Arm. Er wollte ihm etwas zeigen.
»Komm mit!«, sprach er mit seiner Kinderstimme.
»Leb wohl, Antilius«, sagte Tahera mit Tränen in den Augen. Sie gab ihm zum Abschied einen Kuss auf die Stirn, und Antilius fühlte plötzlich wieder diese Vertrautheit zwischen ihr und ihm. Es war fast so, als hätte er sie schon viel länger gekannt. Er hatte aber keine Zeit mehr, dieses Gefühl noch länger zu erforschen, denn er musste sich beeilen.
Wrax führte Antilius zum nahe gelegenen Kornfeld. Zu einer ganz besonderen Stelle. Kinderlachen drang hervor. Genau wie beim ersten Mal, als er das Kornfeld durchstreift hatte. Es war dieselbe Stelle, an der er zum ersten Mal ein Kinderlachen gehört hatte.
Wrax kicherte und zog sich zurück.
Antilius durchsuchte das Feld, das ihm knapp über die Hüfte ging. Er folgte dem Lachen.
»Hierher!«
Antilius ging in die Hocke. Ein kleines Mädchen grinste ihn aus großen glänzenden Augen an. In dem silberfarbenen Dämmerlicht sah sie beinahe aus wie ein Geist. Es wollte ihm etwas zuflüstern und bedeutete ihm mit einer Handbewegung, sich mit seinem Ohr zu ihm zu wenden.
Antilius beugte sich vor.
Und dann flüsterte ihm das Mädchen ihr Geheimnis ins Ohr:
»Benutze es, wenn es so weit ist«, sagte es.
Er sollte seine Hand öffnen.
Sie legte ihm ein kleines, ordentlich gefaltetes Leinentuch hinein. Ein kleiner Gegenstand war darin eingewickelt. Antilius betrachtete das Tuch kurz und wollte es dann entfalten, doch das kleine Mädchen legte ihre kleinen Hände auf seine und bedeutete ihm, es nicht zu tun.
»Wenn es so weit ist«, sagte sie.
»Wann soll das sein?«
»Wenn du mich wieder siehst, am Ende deiner Reise. Dort, wo die Finsternis zum Leben erwacht ist.«
Antilius schaute noch einmal herab auf das Tuch aus Leinen und dann hob er wieder den Kopf. Das Mädchen war fort.
Er ging schließlich zurück zu dem Stein, der das Orakel beherbergte.
»Ich bin bereit, zurückzukehren«, sprach er in die silberne Nacht. Und das Orakel schickte ihn zurück, bevor es schließlich starb.
Antilius kehrte zurück. Zurück zu dem Ort, an dem sein Schicksal sich erfüllt hatte.
Es gab noch so viele Fragen, auf die er keine Antworten hatte. Aber er fühlte, dass sein Abenteuer noch lange nicht vorbei sein würde.
Erleichtert sah er Pais mit Gilbert im Spiegel und Haif wieder, die immer noch an der Barriere von Valheel waren.
Der Nebel war verzogen.
Der Vollmond Quathan schien genauso wie es in dieser Nacht sein sollte.
Pais ging auf Antilius zu. Und als er seine Augen sah, wurde die Prophezeiung des Orakels bestätigt.
Antilius ließ seinen Blick über die Schlucht gleiten. Das Mondlicht von Quathan spiegelte sich in seinen Augen wider. Seine Augen funkelten in einem strahlenden Silber.
Pais stockte der Atem. Denn plötzlich, nach all dem, was an diesem Tage geschehen war, hatte Antilius etwas Fremdes an sich. Es war nicht bedrohlich. Das fühlte Pais sofort. Aber da war etwas in Antilius erwacht, das schon seit seiner Geburt in ihm gewesen sein musste und dennoch nicht zu seinem bisherigen Leben dazugehörte. Doch nun war es hier. Es strahlte Pais mit einer betörenden Energie an und schien bis in sein Herz vorzudringen.
»Was ist geschehen?«, fragte ihn Pais fasziniert.
»Mir wurde noch mehr Zeit gegeben. Was immer es ist, mit dem wir es zu tun haben, es hat gerade erst angefangen«, sagte Antilius.
Irgendwo in der Unendlichkeit:
Schwärze umgab ihn.
Sie füllte alles aus und war doch nichts.
Die unerträgliche Stille. Er hörte ihren Gesang immerzu.
Einst hatte er alles verloren, und doch war es ihm gleich.
So viel gesehen! So viel erlebt!
Und doch verschwanden seine Erinnerungen im unendlichen Raum. Sie trieben langsam davon, ohne sich umzusehen.
Er wartete. Ohne Hoffnung. Das Gefühl für Zeit längst verloren.
Er war nur noch eine leere Hülle, die auf einem kalten Felsen durch das All glitt.
Kein Lichtschein drang zu ihm vor, und kein Geräusch.
Über das Stadium des Wahnsinns war er längst hinaus.
Hohles Existieren. Ohne Sinn. War alles verloren, das ihm einst lieb und teuer war?
Erschaffen? Wozu?
Er käme jedoch niemals auf die Idee, seine Existenz zu hinterfragen. Vermutlich hatte er sogar Angst davor. Es war der Lauf der Dinge. Sie sollten so sein, wie es für ihn bestimmt war, daran gab es für ihn keinen Zweifel. Und so wartete er. Ohne Hoffnung.
Er blickte ins Nichts. Er wartete auf eine Antwort. Es war immer dieselbe, nur hörte er sich nicht. Er wollte sie nicht hören. Dass es jetzt vorbei sein sollte. Dass er für ewig gefangen auf einem Stück Fels durch die Unendlichkeit trieb, konnte er sich nicht vorstellen. Irgendetwas würde geschehen. Das fühlte er, auch wenn ihn die Hoffnung samt Erinnerungen verlassen hatte.
Und so verstrichen die Jahrhunderte, die hier bedeutungslos waren.
Es war Bestimmung. Und dazu gehörte auch zu vergessen. Es machte ihm keine Angst, vergessen zu haben, was war. Denn dies war seine Strategie zu überleben. Die Zeit der Finsternis zu bewältigen und mit ihr zu ringen.
Aber dann eines Tages: An dem Tag, an dem Antilius in den Kristall an der Barriere von Valheel blickte. Mitten in der endlosen Dunkelheit des Universums blitzte plötzlich etwas auf. Ganz schwach. Aber lebendig. War es eine Illusion? Eine grausame Erfindung seines kranken Verstandes? Nein. Denn er konnte die beiden schimmernden Lichtpunkte, die plötzlich vor ihm auftauchten, nicht nur sehen, er konnte sie fühlen. Er konnte Antilius fühlen. Die leuchteten Punkte waren seine Augen. Er spürte seine Wärme.
Wärme und Leben.
So plötzlich es erschien, so plötzlich verschwand der silberne Schein auch wieder. Und in dem Moment, in dem das Leuchten verschwand, geschah das Unglaubliche. Etwas, das er sich seit so langer Zeit nicht mehr erträumt hatte. Und es war der Beginn.
Es war Bestimmung.
Die Erinnerungen, die ihn einst verlassen hatten und die, ohne sich umzusehen, durch das All getrieben waren; sie machten kehrt. Und kamen zurück. Und das Unglaubliche nahm seinen Anfang:
Der Dunkelträumer erwachte aus seinem jahrhundertelangen Schlaf und begann, sich wieder zu erinnern.
Teil II: Das Herz von Xali - Prolog
Verlassen in der Kälte und der ewigen Finsternis, weit entfernt vom Licht und Staub der Sterne, harrte der Dunkelträumer an einem Ort aus, von dem man einst glaubte, er würde ihn nie wieder verlassen können.
Diejenigen, die ihn in seine eisige Verbannung geschickt hatten, waren schon seit vielen Jahrhunderten tot. Und beinahe wäre ihr Plan aufgegangen: Mit der Unsterblichkeit versehen, gab es kein Mittel, den Dunkelträumer zu vernichten, also wurde beschlossen, ihn in die Ferne zu verbannen, an den Rand des Universums. Dort sollte er ewig schlafen.
Fast tausend Jahre lang schlief der Dunkelträumer. Und er träumte. Er träumte von seiner Zeit auf Thalantia und von dem großen Krieg, in dem er einst gekämpft hatte. Und er träumte von dem Verrat, der an ihm begangen wurde. Doch mit den Jahrhunderten verblassten die Träume, und die Erinnerungen schwanden beinahe vollends. Die Hoffnung der Verschwörer, der Dunkelträumer würde alles vergessen und für alle Zeiten in der Einsamkeit vor sich hindämmern, schien sich zu erfüllen.
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