In den nächsten Tagen mußte sich das junge Mädchen wieder mehr seiner Handarbeit widmen. Der Geburtstag der Mutter stand nahe bevor, und die Decke war noch nicht ganz fertig. Auf jeden Fall mußte die Arbeit beendet werden, denn Bärbel hätte sich unsäglich geschämt, wenn es der guten und fürsorglichen Mutter eine unfertige Arbeit geschenkt haben würde.
Frau Wagner beobachtete schon seit einiger Zeit ihre Tochter verstohlen. Irgend etwas mußte ihrem Bärbel begegnet sein, denn Goldköpfchen hatte seit mehr als acht Tagen niemals wieder den Wunsch geäußert, die blaue Kette zu besitzen; auch war die wütende Tanzlust ein wenig verstummt. Sie freute sich darüber, denn sie hatte gerade in den ersten Tagen ihres Hierseins eine bange Sorge nicht unterdrücken können. Bärbel war anspruchsvoll und zuweilen auch mißmutig gewesen. War ganz von allein der schlechte Samen zertreten worden? Die Mutter hätte es gern gewußt. Und daher nahm sie sich heute vor, an jenem Laden stehenzubleiben, in dem noch immer die blauen Ketten hingen.
Das geschah.
»Die Ketten sind wirklich recht nett, aber es geht wohl auch ohne sie. Nicht wahr, Bärbel?«
Vor den Augen Goldköpfchens tauchte plötzlich das hagere, junge Mädchen auf, von dem Bärbel anfangs einen Finderlohn erhofft hatte. Die Ärmste saß nun lange wieder daheim und arbeitete, zehrte aber gewiß noch von der schönen Erinnerung an Wald und See.
Goldköpfchens Körper straffte sich.
»Man hat doch die blaue See und die grünen Hügel, Mutti. Bedenke doch, wie schrecklich es wäre, wenn man alltäglich in einen engen Hof hinabstarren müßte, in dem kein grüner Baum zu sehen ist, kein Vogel singt. – Man muß zufrieden sein, Mutti. – Ich denke, ich brauche die blaue Kette nicht.«
Frau Wagner sagte dazu kein Wort, aber sie ahnte, daß diese Worte nicht in Goldköpfchens Innern geboren worden, daß sie aber hineingefallen waren und dort Wurzel geschlagen hatten.
Sie freute sich, daß sich auch hier wieder der gute Charakter ihres Kindes offenbarte.
Dann kam der Geburtstag der Mutter. Die Decke war fertig, strahlend konnte Goldköpfchen die Arbeit in der Mutter Hände legen. Es war ein prächtiges Stück geworden, und wieder staunte die gute Mutter über die Kunstfertigkeit der eigenen Tochter.
Man verbrachte diesen Tag sehr fröhlich, man stellte Goldköpfchen sogar frei, an diesem Nachmittage zu tanzen. Aber Bärbel schüttelte energisch den Kopf.
»Der ganze Tag gehört dir, Mutti, ich bin doch viel lieber bei euch als bei den anderen, zumal Vati heute abend mit dem letzten Zuge wieder heimfahren muß.«
»Ja, leider«, sagte Herr Apothekenbesitzer Wagner, »aber es war doch eine schöne Zeit, die mich recht erfrischt hat.«
Am Abend brachte die Familie den Vater zur Bahn, dann kehrte man in die kleine Wohnung zurück. Bärbel, die stets, wenn der Vater zu Besuch weilte, in einer kleinen Nebenkammer schlief, durfte nun wieder umziehen und mit der Mutti in demselben Zimmer schlafen, während die beiden Brüder den anstoßenden Raum bewohnten.
Es war gegen zehn Uhr, als Mutter und Tochter zu Bett gingen.
»Schlafe süß ins neue Jahr hinüber, Mutti.«
»Du auch, mein Goldköpfchen!«
Dann war es eine Weile still im Zimmer.
»Mutti?«
»Nun, mein Goldköpfchen?«
»Was hast du denn soeben gemurmelt?«
»Ich will es dir sagen, mein Kind. Ich habe mit dem Himmel gesprochen und ihm gedankt, daß er mir so gute Kinder gegeben hat.«
Wieder war es eine Weile still, dann kam es noch leiser:
»Mutti, – darf deine Große noch ein bißchen zu dir ins Bett kommen?«
»Komm nur!«
Da sprang Goldköpfchen aus dem Bett und schlüpfte unter die Decke der Mutter. Einem kleinen Kinde gleich legte sie ihr goldenes Haupt in Frau Wagners Arme.
»Weißt du was, Mutti, – du hast eigentlich gar keine guten Kinder, – ja, die anderen, die mögen vielleicht gut sein, aber ich bin es nur manchmal.«
Goldköpfchen fühlte den pressenden Druck des Mutterarmes.
»Heute früh an deinem Geburtstage hast du etwas gesagt, Mutti, das geht mir nicht von der Seele, das drückt ein bißchen. – Du hast gesagt, du freust dich über unsere Geschenke, aber das größte Geschenk, das wir dir machen können, ist unser Vertrauen. Ich habe dir nicht immer alles gesagt, Mutti. – Willst du jetzt alles hören?«
»Ja, mein Goldköpfchen.«
Und in dieser traulichen Nachtstunde berichtete Bärbel von all den Versuchungen, denen sie hier ausgesetzt war, von dem Bär, von der zusammengestürzten Höhle, von der gefundenen Tasche, auch von ihrer Unzufriedenheit und ihrem Undank.
»Nun weißt du alles, Mutti. – Bist du mir böse?«
Goldköpfchen fühlte einen langen Kuß auf seiner Stirn.
»Ihr habt mich heute alle sehr erfreut, meine geliebten Kinder; aber das schönste Geschenk habe ich soeben von dir erhalten, mein geliebtes Goldköpfchen. Komm auch weiterhin mit deinem Kummer und deinen Zweifeln zu mir, dann wird uns beiden das Glück erhalten bleiben.«
GOLDKÖPFCHENS LEHRZEIT
»Meine letzten Ferien!« Die siebzehnjährige Tochter des Apothekenbesitzers Wagner stand am Fenster ihres Zimmers und schaute in den Garten des Elternhauses hinab.
Dort waren zwei dreizehnjährige Knaben eifrig damit beschäftigt, aus Tüchern, Stöcken, Pappbogen und Strohmatten ein Zelt zu errichten.
Martin und Kuno, die Zwillinge, huldigten ihrem Lieblingsspiele; die Indianerhäuptlinge mußten einen neuen Wigwam haben, der später von der großen Schwester besichtigt werden sollte.
Bärbel war die »Weiße Blume der Prärie«, man plante an der Siebzehnjährigen einen Raub, denn ganz freiwillig beteiligte sich Bärbel nicht mehr an den Spielen der Brüder.
Seit es feststand, daß sie zum Herbst einen Beruf ergreifen würde, hielt es Bärbel Wagner für richtig, an den wilden Spielen der Brüder nicht mehr teilzunehmen.
Die Vorsätze wurden zwar rasch wieder vergessen, denn Barbara Wagner, die wegen ihres reichen, goldblonden Haares auch heute noch in der Familie und deren Freundeskreise das Goldköpfchen aus der Apotheke hieß, tollte und tobte gar gern durch das große Elternhaus, foppte und neckte die Brüder und stieg auch, wenn sie sich unbeobachtet wußte, über Hecken, Zäune, sogar hinauf in die Bäume.
Das war natürlich in Dresden bei der Großmutter nicht möglich gewesen. Aber hier, im kleinen Dillstadt, durfte sie sich ein wenig gehen lassen. Darum sehnte Bärbel stets die Ferien herbei, die sie daheim im Elternhause verbringen konnte. Bei Großmama Lindberg in Dresden war es freilich auch wunderschön. Bärbel liebte die alte Dame geradezu leidenschaftlich, die es wie selten eine verstand, mit der Jugend umzugehen und die Bärbels ganzes Vertrauen besaß.
Dennoch war die Ferienzeit im Elternhause ein Fest. Aber diese Ferien, die sonst fünfmal im Jahre das junge Mädchen von Dresden nach Dillstadt geführt hatten, waren nun ein für allemal beendet. Wenn die nächsten vierzehn Tage vergangen waren, mußte Bärbel nochmals nach Dresden auf das Gymnasium zurückkehren: dann aber begann die Lehrzeit in einem photographischen Atelier in der großen Elbestadt.
Das junge, schlanke Mädchen breitete die Arme weit aus. Photographin! Das war der Beruf, zu dem sich Goldköpfchen nach langem Überlegen entschlossen hatte.
Und was war der Grund hierzu gewesen?
Vor Jahresfrist hatte ihr der Vater einen kleinen Photoapparat geschenkt. Mit Feuereifer hatte Bärbel diese Liebhaberei betrieben: doch genügten ihr die eigenen Leistungen nicht. Das Verlangen, etwas Künstlerisches zu schaffen, wurde immer größer in ihr, jedes photographische Atelier lockte sie an, und schließlich hatte sie die Eltern gebeten, ihr zu gestatten, diesen Beruf zu ergreifen.
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