Die Sache belustigte mich eigentlich, obgleich ich aus der Erzählung wirkliche Teilnahme heraushörte. Es war schwer, an der Wahrheit des Gehörten zu zweifeln, wenn man Vater und Sohn vor sich sah. Meine Augen schweiften noch von dem jungen Mr. Turveydrop, der sich so abmühte, zu dem alten Mr. Turveydrop, der sich lediglich auf die Schaustellung seiner Allüren beschränkte, als letzterer zu mir trat und mich ins Gespräch zog.
Er fragte mich, ob ich London das Glück und die Auszeichnung angedeihen lassen wollte, hier zu leben. Ich hielt es nicht für notwendig, zu erwidern, ich wisse recht wohl, daß das durchaus keine Auszeichnung bedeute, sondern sagte ihm bloß, wo ich wohnte.
»Eine so reizende und vollendete Dame«, sagte er, indem er seinen rechten Handschuh küßte und dann mit ihm auf die Schülerinnen deutete, »wird die Mängel hier mit Nachsicht beurteilen. Wir tun, was wir können, um Politur zu geben – Politur – Politur!«
Er setzte sich neben mich und gab sich offenbar Mühe, die Haltung seines erlauchten Modells auf dem Kupferstich über dem Sofa nachzuahmen. Und wirklich, es gelang ihm so ziemlich.
»Politur – Politur – Politur«, wiederholte er, nahm eine Prise und schnippte leise mit den Fingern. »Aber wir sind nicht – wenn ich so zu einer Dame, in der sich Natur und Kunst so anmutig vereinen, sprechen darf«, sagte er mit einer hochschultrigen Verbeugung und zog dabei die Brauen in die Höhe und schloß die Augen. »Wir sind nicht mehr, was wir früher im Punkte des Anstands waren.«
»Wirklich, meinen Sie, Sir?«
»Wir sind entartet.« Er schüttelte den Kopf, soweit ihm das seine Halsbinde erlaubte. »Eine alles nivellierende Epoche ist der Entwicklung des Anstandes nicht förderlich. Sie begünstigt das Vulgäre. Ich bin vielleicht ein wenig parteiisch. Es schickt sich vielleicht nicht für mich, wenn ich sage, daß man mich seit Jahren den Gentleman Turveydrop nennt – oder daß Seine königliche Hoheit mir die Ehre erwies, zu fragen, als ich den Hut zog, während sie aus dem Pavillon in Brighton – übrigens ein prächtiges Gebäude! – fuhr: Wer ist das? Wer zum Teufel ist das? Warum kenne ich ihn nicht? Warum hat er nicht dreißigtausend Pfund jährlich?... Aber das sind Anekdoten – in aller Mund, Maam, und hie und da immer noch unter den obern Zehntausend Gesprächsthema.«
»In der Tat?«
Er antwortete mit seiner hochschultrigen Verbeugung:
»Wenn von dem, was von Anstand noch übrig ist, die Rede ist. England – o mein Vaterland – ist sehr entartet und sinkt von Tag zu Tag. Es sind nicht viel Gentlemen mehr übrig geblieben. Unser sind nur noch wenige. Nach uns sehe ich nichts kommen als ein Geschlecht von Webern.«
»Man sollte doch glauben, daß das Geschlecht der Gentlemen hier wenigstens nicht ausgestorben ist«, sagte ich.
»Sie sind sehr gütig«, lächelte er, wieder mit einer hochschultrigen Verbeugung. »Belieben zu schmeicheln. Aber nein... nein! Ich bin nie imstande gewesen, meinem armen Jungen diesen Teil seiner Kunst einzuimpfen. Der Himmel sei vor, daß ich über mein liebes Kind etwas Nachteiliges sagen sollte, aber er hat keine – keine – Allüren.«
»Er scheint aber ein vortrefflicher Lehrer zu sein.«
»Verstehen Sie mich recht, meine Gnädige, er ist ein vortrefflicher Lehrer. Alles, was man sich aneignen kann, hat er sich angeeignet. Alles, was man lehren kann, kann er lehren, aber es gibt gewisse Dinge...« Er nahm abermals eine Prise und verbeugte sich wieder, als ob er hinzusetzen wollte: »Das da zum Beispiel.«
Ich warf einen Blick in den Saal, wo Miß Jellybys Verlobter, jetzt die Schülerinnen einzeln vornehmend, sich ärger plagte als je.
»Mein liebenswürdiges Kind«, murmelte Mr. Turveydrop und richtete sich die Halsbinde.
»Ihr Sohn ist unermüdlich.«
»Das von solchen Lippen zu hören, ist ein Lohn für mich. In mancherlei Hinsicht tritt er in die Fußstapfen seiner seligen Mutter. Sie war voll Hingebung und Aufopferung. Ja, die Frauen, die lieblichen Frauen«, sagte er mit einer widerwärtigen Galanterie. »Man kann sie nicht genug hochhalten.«
Ich stand auf und ging zu Miß Jellyby, die jetzt ihren Hut aufsetzte. Da die für eine Lektion festgesetzte Zeit reichlich um war, fand ein allgemeines Hutaufsetzen statt. Wann je Miß Jellyby und der unglückliche Prince Gelegenheit gefunden haben mochten, sich miteinander zu verloben, weiß ich nicht, aber jedenfalls fanden sie jetzt keine, auch nur ein Dutzend Worte miteinander zu sprechen.
»Lieber Sohn«, fragte Mr. Turveydrop herablassend, »weißt du, wie spät es ist?«
»Nein, Vater!«
Der Sohn hatte keine Uhr. Der Vater zog eine schöne goldne mit einer Miene, die der Menschheit zum Beispiel dienen konnte, heraus.
»Mein Sohn, es ist zwei Uhr. Vergiß nicht deine Stunde in Kensington um drei.«
»Da habe ich noch Zeit genug, Vater«, sagte Prince. »Ich kann ein paar Bissen Mittagbrot im Stehen essen und dann gleich gehen.«
»Mein lieber Junge«, entgegnete der Vater, »da mußt du aber rasch machen. Kalten Hammelbraten findest du auf dem Tisch.«
»Ich danke, Vater. Gehst du jetzt, Vater?«
»Ja, mein Sohn. Vermutlich.« Mr. Turveydrop schloß die Augen und zog die Schultern in die Höhe. »Ich muß mich jetzt wie gewöhnlich in der Stadt zeigen.«
»Wäre es nicht am besten, du diniertest irgendwo außer Haus, Vater?«
»Ja, liebes Kind, das beabsichtige ich auch. Ich werde mein kleines Mahl im französischen Restaurants in der Opera-Kolonnade einnehmen.«
»Das ist recht. Adieu Vater!« sagte Prince und schüttelte ihm die Hand.
»Adieu, mein Sohn. Gott segne dich!«
Mr. Turveydrop sprach diese Worte fast in einem frommen Ton, die seinen Sohn, der beim Abschied so ehrerbietig und so stolz auf ihn war, daß es mir fast wie eine Unfreundlichkeit vorgekommen wäre, wenn man nicht unumschränkt ebenfalls an seinen Vater geglaubt hätte, sehr zu freuen schienen.
Die wenigen Augenblicke, die Prince dem Abschiednehmen von uns widmen konnte – und vorzüglich von einer von uns, wie ich als Mitwisserin sehr gut merkte –, vermehrten den günstigen Eindruck, den sein harmlos kindliches Benehmen auf mich gemacht hatte. Er gefiel mir sehr, und ich sah fast mit einem Mitleid, das mich beinahe noch mehr gegen seinen Vater aufbrachte als die alte Dame mit dem kritischen Blick, wie er seine kleine Violine in die Tasche steckte – und mit ihr seinen Wunsch, noch ein klein wenig mit Caddy beisammen bleiben zu können – und resigniert zu seinem kalten Hammelfleisch und zu seiner Tanzlektion in Kensington ging.
Der alte Mr. Turveydrop öffnete uns die Zimmertür und verneigte sich vor uns mit einer Grandezza, die, wie ich anerkennen muß, seinen glänzenden Allüren durchaus würdig war. In demselben Stil stolzierte er gleich darauf an der andern Seite der Straße vorüber und schlug den Weg nach dem aristokratischen Viertel der Stadt ein, wo er sich unter den wenigen noch lebenden Gentlemen zeigen wollte.
Eine Zeitlang war ich so in Gedanken über das in Newmanstreet Gehörte und Gesehene verloren, daß ich gänzlich außerstande war, mit Caddy zu sprechen oder dem, was sie mir erzählte, meine Aufmerksamkeit zuzuwenden. Besonders, als ich mich innerlich fragte, ob es jemals andre Gentlemen als Tanzlehrer gegeben habe, die nur von Anstand gelebt und ihren Ruhm darauf begründet hätten. Das verwirrte mich so sehr und enthüllte mir die Möglichkeit der Existenz so vieler Mr. Turveydrops, daß ich zu mir sagte: »Esther, weg mit diesen Gedanken. Du mußt jetzt auf Caddy hören.« Und das tat ich, und wir plauderten den ganzen Weg bis Lincoln's-Inn.
Sie erzählte mir, ihres Verlobten Erziehung sei so vernachlässigt worden, daß es ihr manchmal schwer falle, seine Briefe zu entziffern. Sie sagte, wenn er wegen seiner Orthographie nicht so ängstlich wäre und sich weniger Mühe damit gäbe, täte er besser, aber er brächte oft so viel unnötige Buchstaben in kurzen Wörtern an, daß sie manchmal ganz ihr englisches Aussehen verlören.
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