»Was seine Verwandten betrifft, Sir«, fährt Mr. Snagsby fort, »wenn jemand zu mir spräche: Snagsby, hier liegen zwanzigtausend Pfund für Sie in der Bank von England bereit, wenn Sie mir auch nur einen von ihnen nennen, so könnte ich es nicht, Sir. Vor ungefähr anderthalb Jahren, soweit ich mich erinnern kann, und um die Zeit, wo er in den Althändlerladen hier eingezogen ist...«
»Um die Zeit war es«, bestätigt Krook mit einem Kopfnicken.
»Vor ungefähr anderthalb Jahren«, fährt Mr. Snagsby ermutigt fort, »kam er eines Morgens nach dem Frühstück in mein Geschäft, fand dort meine kleine Frau, legte ihr eine Probe seiner Handschrift vor und sagte ihr, er suche Abschreibearbeit zu bekommen. Und daß er – um nicht durch die Blume zu sprechen« – ein Lieblingsausdruck Mr. Snagsbys, wenn er keine Umstände machen und frei herausreden will – »und daß er sehr in Not sei. Meine kleine Frau hat für gewöhnlich keine besondere Vorliebe für Fremde, besonders – um nicht durch die Blume zu sprechen –, wenn sie etwas haben wollen. Aber irgend etwas an dem Mann mußte doch ihr Interesse erregt haben; ob er unrasiert war oder wild und ungekämmt aussah oder sonst etwas an sich hatte, was Damen interessiert, überlasse ich Ihnen zu beurteilen, aber sie nahm die Probe an und auch die Adresse. Meine kleine Frau hat kein gutes Ohr für Namen«, fährt Mr. Snagsby fort, nachdem er mit seinem rücksichtslosen Husten hinter der vorgehaltnen Hand zu Rate gegangen ist, »und sie verwechselte Nemo mit Nimrod. Sie hat sich deshalb angewöhnt, bei Tisch zu mir zum Beispiel zu sagen: Snagsby, hast du noch immer keine Arbeit für Nimrod? Oder: Snagsby, warum hast du die achtunddreißig Folioseiten in Sachen Jarndyce nicht Nimrod gegeben? Und so weiter. Auf diese Art bekam er nach und nach ziemlich regelmäßig Arbeit von uns, und das ist alles, was ich von ihm weiß, außer, daß er sehr rasch schrieb und sich aus Nachtarbeit nichts machte. Wenn man ihm zum Beispiel fünfundvierzig Folioseiten Mittwoch abends gab, hatte er sie schon Donnerstag früh fertig.« Mr. Snagsby schließt seine Rede mit einer höflichen Bewegung seines Hutes nach dem Bette hin, als wollte er hinzusetzen, – »was alles ohne Zweifel mein ehrenwerter Freund hier bestätigen würde, wenn es ihm sein Zustand erlaubte.«
»Möchten Sie nicht vielleicht nachsehen, ob Papiere da sind, die Licht in die Sache bringen könnten«, sagt Mr. Tulkinghorn zu Krook. »Man wird Totenschau halten und Sie wahrscheinlich danach fragen.«
»Nein, kann ich nicht«, antwortete der Alte plötzlich, die Zähne zusammenbeißend.
»Snagsby, durchsuchen Sie also einmal das Zimmer für ihn«, sagt Mr. Tulkinghorn. »Er könnte sonst leicht Unannehmlichkeiten haben. Da ich schon hier bin, will ich warten, wenn Sie schnell machen, und kann dann Zeugenschaft ablegen, daß alles richtig zugegangen ist, wenn es verlangt werden sollte.«
»Wenn Sie Mr. Snagsby die Kerze halten wollen, mein Freund, wird er bald sehen, ob etwas vorhanden ist.«
»Erstens einmal ist hier ein alter Mantelsack, Sir«, sagt Snagsby.
»Ja richtig!« Mr. Tulkinghorn scheint den Mantelsack nicht gesehen zu haben, obgleich er dicht daneben steht und weiß Gott sonst wenig genug im Zimmer ist.
Der Trödler hält das Licht, und der Papierhändler leitet die Untersuchung. Der Arzt lehnt an einer Ecke des Kaminsimses; Miß Flite steht zitternd auf der Türschwelle und lugt furchtsam ins Zimmer. Der gelehrte Advokat der alten Schule mit den glanzlosen schwarzen, mit Bändern am Knie zugebundnen Hosen, der langen schwarzen Weste, dem langärmeligen schwarzen Frack und dem ungestärkten weißen Halstuch mit der kleinen Schleife, die der Hochadel so gut kennt, steht genau auf demselben Fleck in der alten Stellung.
In dem Mantelsack finden sich ein paar wertlose Kleidungsstücke, ein Bündel Versatzscheine, diese Mautzettel auf dem Wege zur Armut, ein zerknittertes Blatt Papier, das nach Opium riecht und ein paar hingekritzelte Notizen aufweist, zum Beispiel: An dem und dem Tage soviel Gran genommen, an dem und dem so und so viel Gran mehr. Die Notizen sind vor längerer Zeit niedergeschrieben, wohl mit der Absicht, sie regelmäßig fortzusetzen. Aber bald sind sie abgebrochen worden. Es finden sich ein paar schmutzige Fetzen von Zeitungen, lauter Totenschauberichte. Weiter nichts. Sie suchen im Wandschrank und in der Schublade des tintenbespritzten Tisches. Auch nicht ein Stückchen eines alten Briefs oder sonst ein Anhaltspunkt ist zu entdecken. Der junge Arzt untersucht die Kleider des Schreibers. Weiter nichts als ein Messer und einige Halfpence kommen zum Vorschein. Mr. Snagsbys Rat ist schließlich doch der praktischste, und der Kirchendiener muß geholt werden.
Die kleine verrückte Alte holt daher den Kirchspieldiener, und die übrigen verlassen das Zimmer.
»Die Katze darf nicht hier bleiben«, sagt der Arzt. »Das geht nicht.«
Mr. Krook jagt sie vor sich hinaus, und sie schleicht verstohlen die Treppe hinab, richtet ihren schlanken Schweif auf und leckt sich die Lippen.
»Gute Nacht«, sagt Mr. Tulkinghorn und geht heim zu Allegorie und Grüblerei.
Um diese Zeit hat sich die Nachricht von dem Todesfall im Hofe verbreitet. Es sammeln sich Gruppen seiner Bewohner, um die Sache zu besprechen, und die Vorposten der Beobachtungsarmee, die hauptsächlich aus Jungen besteht, werden bis zu Mr. Krooks Fenster vorgeschoben, das sie dicht umlagern. Ein Polizeidiener ist bereits in das Zimmer hinauf und wieder bis zur Tür hinuntergegangen, steht da wie ein Turm und läßt sich nur gelegentlich herab, die Jungen tief unten zu seinen Füßen anzublicken. Und jedes Mal, wenn er sie ansieht, weichen sie scheu zurück.
Mrs. Perkins, die seit Wochen mit Mrs. Piper kein Wort gesprochen hat, weil der kleine Perkins dem kleinen Piper eins auf den Kopf gegeben hat, knüpft bei dieser aussichtsreichen Gelegenheit den freundschaftlichen Verkehr wieder an. Der Schankkellner an der Ecke, eine Art privilegierter Amts-Amateur, da er offizielle Lebenskenntnis besitzt und gelegentlich mit Betrunkenen zu tun hat, tauscht vertraulich Ansichten mit dem Polizeidiener und hat das Aussehen eines unbesiegbaren Jünglings, dem Konstablerstäbe und Polizeistationen nichts anhaben können.
Die Leute reden miteinander über die Gasse hinweg aus den Fenstern, und barhäuptige Späher kommen aus Chancery-Lane herbeigelaufen, um zu sehen, was es gibt. Die allgemeine Ansicht scheint zu sein, es sei ein Glück, daß wider Erwarten die Reihe nicht an Mr. Krook zuerst kam, aber es mischt sich ein wenig natürliche Enttäuschung hinein.
Inmitten dieser Aufregung erscheint der Kirchspieldiener.
Der Kirchspieldiener, obgleich allgemein in der Nachbarschaft für eine lächerliche Institution gehalten, genießt für den Augenblick eine gewisse Popularität, wenn auch nur als Person, die die Leiche ansehen darf. Der Polizeidiener sieht in ihm einen schwachsinnigen Zivilisten, ein Überbleibsel aus dem barbarischen Zeitalter der Nachtwächter, aber er läßt ihn ein wie etwas, das geduldet werden muß, bis die Regierung es abschafft. Die allgemeine Aufregung erreicht ihren Höhepunkt, als das Gerücht von Mund zu Mund geht, der Kirchspieldiener sei eingetroffen und hineingegangen.
Bald darauf kommt der Kirchspieldiener wieder heraus, und wieder steigt die Aufregung, die mittlerweile ein wenig abgeflaut war. Man vernimmt, daß er für die morgige Totenschau Zeugen sucht, die dem Beamten und den Geschwornen Auskunft über den Verstorbenen geben können. Er wird auf der Stelle an unzählige Leute gewiesen, die ihm nicht das mindeste zu sagen imstande sind. Er wird dadurch noch dümmer gemacht, daß man ihm beständig wiederholt, Mrs. Greens Sohn sei selbst Advokatenschreiber gewesen und habe den Toten besser gekannt als irgend jemand sonst.
Der Sohn von Mrs. Green befindet sich jedoch, wie sich bei näherer Nachfrage herausstellt, gegenwärtig an Bord eines Schiffes, das vor drei Monaten nach China unter Segel ging, das man aber vermutlich nach einer Eingabe an die Admiralitätschaft telegraphisch erreichen könnte.
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