Joseph von Eichendorff - Ahnung und Gegenwart

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Ahnung und Gegenwart ist der erste Roman von Joseph von Eichendorff, der, im Herbst 1812 vollendet, 1815 bei Johann Leonhard Schrag in Nürnberg erschien. In seinem Vorwort vom 6. Januar 1815 zu diesem Zeitroman weist Friedrich de la Motte Fouqué auf die Handlungszeit des Textes vor den Befreiungskriegen hin.Der junge Graf Friedrich unterliegt im Kampf gegen ausländische Okkupanten, geht seines Besitzes verlustig und findet hinter Klostermauern Frieden.

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»Das dacht ich gleich«, rief Leontin, »das ist so ihre Weise.« – »Wer ist die Dame?« fragte Friedrich. – »Eine junge, reiche Witwe«, antwortete Leontin, »die nicht weiß, was sie mit ihrer Schönheit und ihrem Geiste anfangen soll, eine Freundin meiner Schwester, weil sie mit ihr spielen kann, wie sie will, eine tollgewordene Genialität, die in die Männlichkeit hineinpfuscht.« Hierbei wandte er sich ärgerlich zu seinen Jägern, die ihre Pferde schon wieder aufgezäumt hatten, und befahl ihnen, nach seinem Schlosse zurückzukehren, um die Reise freier und bequemer, bloß in Friedrichs und Erwins Begleitung weiter fortzusetzen.

Die Jäger brachen bald auf und die beiden Grafen blieben nun allein auf dem grünen Platze zurück, wo es so auf einmal still und leer geworden war. Da kam Erwin wieder gesprungen und sagte, daß man den Wagen soeben noch in der Ferne sehen könne. Sie blickten hinab und sahen, wie er in der glänzenden Ebene fortrollte, bis er zwischen den blühenden Hügeln und Gärten in dem Abendschimmer verschwand, der sich eben weit über die Täler legte. Von der andern Seite hörte man noch die Hörner der heimziehenden Jäger über die Berge. »Siehst du dort«, sagte Friedrich, »die dunklen Türme der Residenz? Sie stehen wie Leichensteine des versunkenen Tages. Anders sind die Menschen dort, unter welche Rosa nun kommt; treue Sitte, Frömmigkeit und Einfalt gilt nicht unter ihnen. Ich möchte sie lieber tot, als so wiedersehn. Ist mir doch, als stiege sie, wie eine Todesbraut, in ein flimmernd aufgeschmücktes, großes Grab, und wir wendeten uns treulos von ihr und ließen sie gehen.« – Leontin fuhr lustig über die Saiten der Gitarre und sang:

»Der Liebende steht träge auf,

Zieht ein Herrjemine-Gesicht

Und wünscht, er wäre tot.

Der Morgen tut sich prächtig auf,

So silbern geht der Ströme Lauf,

Die Vöglein schwingen hell sich auf:

›Bad, Menschlein, dich im Morgenrot,

Dein Sorgen ist ein Wicht!‹«

Darauf bestiegen sie beide ihre Pferde und ritten in das Gebirge hinein.

Nachdem sie so mehrere Tage herumgeirrt und die merkwürdigsten Orte des Gebirges in Augenschein genommen hatten, kamen sie eines Abends schon in der Dunkelheit in einem Dorfe an, wo sie im Wirtshause einkehrten. Dort aber war alles leer und nur von einer alten Frau, die allein in der Stube saß, erfuhren sie, daß der Pächter des Ortes heute einen Ball gebe, wobei auch seine Grundherrschaft sich befände, und daß daher alles aus dem Hause gelaufen sei, um dem Tanze zuzusehen.

Da es zum Schlafengehen noch zu zeitig und die Nacht sehr schön war, so entschlossen sich auch die beiden Grafen, noch einen Spaziergang zu machen. Sie strichen durchs Dorf und kamen bald darauf am andern Ende desselben an einen Garten, hinter welchem sich die Wohnung des Pächters befand, aus deren erleuchteten Fenstern die Tanzmusik zu ihnen herüberschallte. Leontin, den diese ganz unverhoffte Begebenheit in die lustigste Laune versetzt hatte, schwang sich sogleich über den Gartenzaun, und überredete auch Friedrich, ihm zu folgen. Der Garten war ganz still, sie gingen daher durch die verschiedenen Gänge bis an das Wohnhaus. Die Fenster des Zimmers, wo getanzt wurde, gingen auf den Garten hinaus, aber es war hoch oben im zweiten Stockwerke. Ein großer, dichtbelaubter Baum stand da am Hause und breitete seine Äste gerade vor den Fenstern aus. »Der Baum ist eine wahre Jakobsleiter«, sagte Leontin, und war im Augenblicke droben. Friedrich wollte durchaus nicht mit hinauf. »Das Belauschen«, sagte er, »besonders fröhlicher Menschen in ihrer Lust, hat immer etwas Schlechtes im Hinterhalte.« »Wenn du Umstände machst«, rief Leontin von oben, »so fange ich hier so ein Geschrei an, daß alle zusammenlaufen und uns als Narren auffangen oder tüchtig durchprügeln.« Soeben knarrte auch wirklich die Haustür unten und Friedrich bestieg daher ebenfalls eilfertig den luftigen Sitz.

Oben aus der weiten, dichten Krone des Baumes konnten sie die ganze Gesellschaft übersehen. Es wurde eben ein Walzer getanzt, und ein Paar nach dem andern flog an dem Fenster vorüber. Junge, flüchtige Ökonomen, wie es schien, in knappen und eng zugespitzten Fracken fegten tapfer mit tüchtigen Mädchen, die vor Gesundheit und Freude über und über rot waren. Hin und wieder zogen fröhliche, dicke Gesichter, wie Vollmonde, durch diesen Sternenhimmel. Mitten in dem Gewimmel tanzte eine hagere Figur, wie ein Satyr, in den abenteuerlichsten, übertriebensten Wendungen und Kapriolen, als wollte er alles Affektierte, Lächerliche und Ekle jedes einzelnen der Gesellschaft in eine einzige Karikatur zusammendrängen. Bald darauf sah man ihn auch unter den Musikanten ebenso mit Leib und Seele die Geige streichen. »Das ist ein höchst seltsamer Gesell«, sagte Leontin, und verwendete kein Auge von ihm. »Es ist doch ein sonderbares Gefühl«, erwiderte Friedrich nach einer Weile, »so draußen aus der weiten, stillen Einsamkeit auf einmal in die bunte Lust der Menschen hineinzusehen, ohne ihren inneren Zusammenhang zu kennen; wie sie sich, gleich Marionetten, voreinander verneigen und beugen, lachen und die Lippen bewegen, ohne daß wir hören, was sie sprechen.« »Oh, ich könnte mir«, sagte Leontin, »kein schauerlicheres und lächerlicheres Schauspiel zugleich wünschen, als eine Bande Musikanten, die recht eifrig und in den schwierigsten Passagen spielten, und einen Saal voll Tanzender dazu, ohne daß ich einen Laut von der Musik vernähme.« – »Und hast du dieses Schauspiel nicht im Grunde täglich?« entgegnete Friedrich. »Gestikulieren, quälen und mühen sich nicht überhaupt alle Menschen ab, die eigentümliche Grundmelodie äußerlich zu gestalten, die jedem in tiefster Seele mitgegeben ist, und die der eine mehr, der andere weniger und keiner ganz auszudrücken vermag, wie sie ihm vorschwebt? Wie weniges verstehen wir von den Taten, ja, selbst von den Worten eines Menschen!« – »Ja, wenn sie erst Musik im Leibe hätten!« fiel ihm Leontin lachend ins Wort. »Aber die meisten fingern wirklich ganz ernsthaft auf Hölzchen ohne Saiten, weil es einmal so hergebracht ist und das vorliegende Blatt heruntergespielt werden muß; aber das, was das ganze Hantieren eigentlich vorstellen soll, die Musik selbst und Bedeutung des Lebens, haben die närrisch gewordenen Musikanten darüber vergessen und verloren.«

In diesem Augenblicke kam ein neues Paar bei dem Fenster angeflogen, alles machte ehrerbietig Platz und sie erblickten ein wunderschönes Mädchen, das sich durch seinen Anstand vor allen den andern auszeichnete. Sie lehnte lächelnd die zarte, glühende Wange an die Fensterscheibe, um sie abzukühlen. Darauf öffnete sie gar das Fenster, teilte zierlich ihre Haare, durch die ein Rosenkranz geflochten war, nach beiden Seiten über die Stirn, und schaute, so wie in Gedanken versunken, lange in die Nacht hinaus. – Leontin und Friedrich waren ihr dabei so nahe, daß sie ihren Atem hören konnten; ihre stillen, großen Augen, in deren feuchtem Spiegel der Mond widerglänzte, standen gerade vor ihnen. »Wo ist das Fräulein?« rief auf einmal eine Stimme von innen, und das Mädchen wandte sich um und verlor sich unter den Menschen. – Leontin sagte: »Ich möchte den Baum schütteln, daß er bis in die Wurzeln vor Freude beben sollte, ich möchte hier ins offene Fenster hineinspringen und tanzen, bis die Sonne aufginge, ich möchte wie ein Vogel von dem Baume fliegen über Berge und Wälder!« – Zwei ältliche Herren unterbrachen diese Ausrufungen, indem sie sich zum Fenster hinauslehnten. Ihr Gespräch, so ruhig wie ihre Gesichter, ergoß sich wie ein einförmiger, aber klarer Strom über die neuesten politischen Zeitbegebenheiten, von denen sie bald auf ihre Landwirtschaft ablenkten, und aus den Blitzen, die man in der Ferne am wolkenlosen Himmel erblickte, ein günstiges Erntewetter prophezeieten.

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