Die Umgebung wurde ländlicher und Linnea begann, die Anspannung der Arbeitswoche und vor allem der letzten Tage ein bisschen abzuschütteln. Wochenenden bei ihrer Mutter waren immer eine nette Abwechslung. In dem kleinen Haus mit Garten ihrer Kindheit hatte sie genug Raum zum Denken. Nicht nur deshalb flüchtete sie sich gern dorthin, wenn es ihr mit Albin in der kleinen Dachgeschosswohnung in Stockholms Zentrum wieder einmal ein bisschen zu eng wurde. Auch wenn sie ihm zugestehen musste, dass er sich in den letzten Tagen nach anfänglichen Protesten doch sehr kooperativ gezeigt hatte. Soll heißen: Er hatte sie in Ruhe gelassen – oder war ihr zumindest nicht mit negativen Kommentaren im Weg gewesen. Trotzdem hatten gerade diese Tage ihr wieder einmal gezeigt, wie angespannt ihre Beziehung war. Sie musste ja auch unglaublichem Druck standhalten, immerhin war jeder außer ihnen selbst davon überzeugt, dass sie demnächst vor den Traualtar treten würden. Okay, sie sollte vielleicht nicht für Albin sprechen, sie kannte seine Intentionen nicht so genau – und das sagte schon sehr viel aus.
„Gib doch zu, dass es einen gewissen Reiz hat zu wissen, dass der morgige Abend mit einem Kuss von Haydn Cavendish enden könnte“, zwinkerte Kristina und nahm ihre Jacke und Linnea stand ebenfalls auf. „Unbedingt“, nickte sie bestimmt und hängte ihren Rucksack um. „Nur deshalb habe ich den Job angenommen. – Gott, meine Mutter wäre so unglaublich stolz auf mich.“ Die Zugtüren öffneten sich und Linnea sprang auf den Bahnsteig. Kristina folgte ihr etwas gesitteter. „Na siehst du! Und wenn du es nur deiner Mutter zuliebe tust!“ „Ha-ha!“
„Ach ja, bevor ich’s vergesse...“ Agneta lehnte sich zurück und ließ sich die letzten Sonnenstrahlen ins Gesicht leuchten. „Harald kommt heute noch vorbei.“ „Wer?“ Sie hob wieder den Kopf. „Harald, der Junge den ich beim Uhrenshoot getroffen habe.“ „Ah ja der!“ Wer? „Also, was ich eigentlich sagen wollte: Könntet ihr Mädchen euch nach oben verziehen? Zumindest so lange bis wir im Schlafzimmer sind.“ Kristina und Linnea warfen sich einen vielsagenden Blick zu. „Natürlich Aggie, alles was du willst.“ Sie lachten, es ging nicht anders, auch wenn Linnea innerlich aufseufzte und den Gedanken von sich schüttelte, dass der Junge, wie Agneta ihn bezeichnete, wahrscheinlich ihr kleiner Bruder sein könnte.
„Glaubst du, deine Mutter schleppt noch arme unschuldige Schulkinder ab, wenn sie sechzig ist?“ Kristina ließ sich auf Linneas Bett fallen und begann in ihrer Tasche zu kramen. Linnea stand vor dem Spiegel und kämmte sich. „So lange sie sich dann nicht an den Schulfreunden ihrer Enkel vergreift, soll’s mir Recht sein.“ Na ja, das war ein klein bisschen gelogen. „Welche Enkelkinder...? Oh!“ Sofort schnellte sie wieder hoch. „Enkelkinder! Der Tag ist schon bald vorüber und du rückst erst jetzt damit raus?“ Sie sprang auf und warf sich ihrer Freundin an den Hals. Diese verdrehte allerdings nur die Augen und schob sie von sich. „Ich bin nicht schwanger, Kris.“ „Oooooch.“ Kristina setzte sich schmollend zurück aufs Bett. „Und ich dachte schon, ihr beide wärt endlich den nächsten Schritt gegangen.“ Nein, nein, nein, nicht das Thema schon wieder. Linnea knöpfte ihre Bluse auf und griff nach ihrem Pyjama. „Der nächste Schritt wäre zu heiraten“, konterte sie dann und schubste Kristina vom Bett. „Das ist doch nur mehr eine Formsache. Und heutzutage überflüssig.“ Kristina kroch unter die Decke des Klappbetts und klopfte ihr Kissen zurecht. Sie fand es immer noch ganz amüsant, mit ihrer Freundin im selben Zimmer zu schlafen, obwohl es ein Gästezimmer gab. Es war wie in ihrer Kindheit – obwohl sie sich damals noch nicht gekannt hatten. „Gute Nacht, Kris!“ Linnea machte das Licht aus. „Gute Nacht, Linni!“
Sie kaute gedankenverloren an einer Haarsträhne, während sie mit verzweifeltem Blick den Inhalt ihres Kleiderschranks scannte. Auf dem Bett hatte sie bereits einige Outfits ausgelegt und dann doch gleich wieder verworfen. Die Kleiderfrage war ihr schon immer ein Dorn im Auge gewesen. Früher war das so einfach gewesen: Ein Top, Jeans und ganz viel Schmuck. Aber sie konnte schlecht wie ein Punk zu dem Interview erscheinen. Oder doch? Immerhin war die Band auch nicht gerade Mainstream.
„Sinnkrise?“ Im rettenden Augenblick tauchte Albin hinter ihr auf und legte seine Arme um ihre Hüften. Linnea zuckte erschrocken zusammen und brachte Albin damit zum Lachen. Linnea war allerdings längst viel zu genervt, um ihre Situation lustig zu finden und sie wand sich aus seiner Umklammerung. Albin wollte keinen erneuten Streit provozieren und schob einen Berg Wäsche zur Seite, um sich aufs Bett setzen zu können. „Ich bin früher nach Hause gekommen, um dir für dein Interview viel Glück zu wünschen...“ „Hallooo!“ „Allerdings musste ich auch deine Mutter herein lassen...“
Agneta spazierte fröhlich zur Tür herein und gesellte sogleich zu ihrer Tochter und betrachtete deren Spiegelbild in der Schranktür. „Wusst ich’s doch, dass du ohne mich völlig verloren sein würdest.“ Damit überreichte sie Linnea mit einem selbstbewussten Lächeln einen Kleidersack. „Und keine Sorge, es ist nur aus dem Büro geliehen.“ Linnea nahm etwas skeptisch an und öffnete den Reißverschluss. Zum Vorschein kam ein dunkelblaues Etuikleid – spießig – mit tiefem Ausschnitt – sexy - und Nieten an Kragen und Gürtel – lässig. „Mamma...“ „Du brauchst nichts zu sagen“, wehrte Agneta sofort ab. „Ich weiß doch, dass mein Kind nicht meinen Sinn für Stil geerbt hat.“ Nein, den hatte sie eindeutig von ihrem Vater. Rock und T-Shirt waren schon Abendgarderobe. Es war das was man als Ironie bezeichnete, dass sie mit zwei absoluten Modefreaks zusammen lebte.
„Mach schon, zieh es an!“, drängte Albin und Linnea beeilte sich, sich aus dem Handtuch zu schälen, das sie nach dem Duschen eilig umgewickelt hatte. Agneta hatte bereits mit dem sicheren Gespür einer Modejournalistin einen BH aus der Kommode gezogen und half dann ihrer Tochter dabei das Kleid überzuziehen. „Wow“, staunte Albin, als Agneta den Reißverschluss zuzog und Linnea sich vor dem Spiegel hin und her drehte. „Ich weiß nicht, ob ich dich so zu einem Interview mit Haydn Cavendish gehen lassen kann.“ „Ach Unsinn!“, schüttelte Agneta den Kopf. „Hör nicht auf ihn, Kind. Du siehst fantastisch aus und er wird sich hüten, dich anzufassen.“ Dann suchte sie die passenden Schuhe aus einer der anderen mitgebrachten Tüten. Schwarze Ankleboots mit zwei sich überkreuzenden Nietenbändern. Gerade hoch genug, um Linnea die perfekte Silhouette zu verpassen, ohne dass sie dabei über ihre eigenen Füße stolperte.
„Aber was mach ich mit den Haaren?“, drehte sie sich schließlich herum und sah von ihrer Mutter zu Albin. Als Teenager – in ihrer 80s Rock Phase in der sie davon träumte ein berühmtes Groupie zu sein - hatte sie sich ihre blonde Mähne schwarz gefärbt und Agneta damit zur Weißglut getrieben. Heute reichten ihre Haare fast bis zum Po, waren aber völlig ohne jeden Schnitt, weshalb Agneta immer wieder an ihr herummaulte. „Irgendwann schneide ich sie dir in der Nacht einfach ab“, drohte sie jedes Mal.
„Ich wüsste ja die perfekte Frisur zu diesem Kleid“, zuckte sie auch diesmal die Schultern. „Aber dazu müssten wir dich zum Frisör schicken.“ „Ich hol mal den Fön und Lockenstab“, lenkte Albin ein und verschwand ins Bad. Linnea wickelte sich das Handtuch vom Kopf und schüttelte ihr Haar aus. Dann stieg sie wieder aus dem Kleid, um es nicht gleich zu ruinieren. Wenn Agneta es tatsächlich aus dem Büro mitgebracht hatte, kostete es so einiges.
Etwa eine halbe Stunde später hatte Albin so etwas wie Ordnung in das Wirrwarr auf ihrem Kopf gebracht und Linnea drehte sich eine Locke um den Finger, während sie sich ein letztes Mal im Spiegel betrachtete. In diesem Outfit fühlte sie sich beinahe sicher genug, um den König zu interviewen. Wobei sie sich im selben Moment nicht ganz sicher war, was nun im Endeffekt schlimmer war: König oder Haydn Cavendish.
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