Emma lächelte erfreut, ihre Augen leuchteten. „Klar, du kannst zu mir kommen!“
Erleichtert, dass sie so schnell ein Zimmer bekommen hatte, erwiderte Melanie das Lächeln und stand auf. „Dann ... hol ich meine Sachen und komme wieder.“ Es fühlte sich komisch an, eine so große Entscheidung in ihrem Leben zu treffen, aber plötzlich freute sich Melanie darüber.
Daniel erhob sich. „Ich komme mit.“
Emma machte Anstalten, aus der Krankenstation zu verschwinden. „Ich geh mal John benachrichtigen.“ Dabei vergaß sie den Erste-HilfeKoffer und eilte schon aus der Tür.
Melanie wollte ihr hinterherrufen, doch bevor sie den Mund öffnete, hatte Daniel einen Koffer gepackt und joggte ihr hinterher. „Emma! Du hast den Koffer vergessen, mi amor .“ Er blieb direkt hinter ihr stehen.
„Oh.“ Emma drehte sich um und schlug sich gegen die Stirn. „Wie blöd, danke.“ Sie nahm ihm den Koffer ab, murmelte Daniel etwas zu und war dann gänzlich verschwunden.
Mi amor?
Melanie verdrängte das Eifersuchtsgefühl, das sie verspürte, als sie daraus schloss, dass Emma Daniels Freundin war. Es musste ja nicht gleich jeder Junge in ihrem Umfeld single sein!
„Was soll ich denn eigentlich mitnehmen?“, fragte Melanie Daniel, als sie gemeinsam durch den Wald zurückgingen.
„Ein paar Kleider, wichtige Dinge, aber keine Schulbücher oder so.“ Daniel grinste.
„Okay.“ Sie biss sich auf die Unterlippe und wagte die Frage. „Wieso ist denn bei deiner Freundin ein Bett frei?“
Daniel schaute sie zutiefst irritiert an. „Welche Freundin?“ „Emma“, antwortete Melanie verunsichert. Daniel lachte. „Emma ist doch nicht meine Freundin!“ Melanie runzelte die Stirn.
„Wie kommst du denn darauf?“, wollte Daniel belustigt wissen.
„Äh ...“ Sie fuhr sich nervös durchs Haar. „Du hast sie mi amor genannt ...“
Daniel begann schon wieder zu lachen. „Oh, nein! Dann hätte ich aber viele Freundinnen.“ Verlegen rieb er sich die Stirn. „Auf Spanisch sagt man das viel offener, das darfst du nicht wörtlich nehmen. Ist sowas wie ein Kosename.“
„Ach so.“ Jetzt musste Melanie auch lachen. Aus irgendeinem Grund freute es sie, dass Emma und Daniel nicht zusammen waren, obwohl sie nicht auf der Suche nach einem Freund war.
Der Verband an ihrem Arm drückte beim Gehen leicht, aber erleichtert stellte Melanie nun fest, dass die Wunde kaum noch wehtat. Eine Weile lang schwiegen sie.
„Hier links“, sagte Daniel plötzlich.
Erst jetzt fiel Melanie auf, dass sie bereits den Wald durchquert hatten und auf das kaputte Haus zugingen, durch das sie vorhin ins Land der Nacht gekommen waren. Zum Glück war Daniel mitgekommen, denn Melanie hätte den Weg nie und nimmer alleine gefunden.
„Ist das so ‘ne Art Tarnung?“, fragte Melanie, die hinter Daniel auf das zerbrochene Fenster zusteuerte.
Daniel nickte. „Für normale Menschen sieht es hier so abscheulich aus, dass sie gar nicht reinkommen wollen. Spätestens beim Garten jedoch kehren die Mutigsten um, weil sie den Wald gar nicht sehen.“
„Cool“, murmelte Melanie. Es würden bestimmt noch viele Überraschungen im Land der Nacht auf sie warten.
Wieder half ihr Daniel durch das Fenster, obwohl sie protestieren wollte. Aber er hielt sie trotzdem fest und schlussendlich war sie dennoch dankbar, da ihre verletzte Schulter ihr Gewicht nicht tragen wollte. Als sie in der zwielichtigen Gasse standen, übernahm Melanie die Führung. Sie spazierten ohne große Eile die Gasse entlang bis zur Querstraße, wo sie rechts abbogen.
„Bist du oft in dieser Gegend?“, fragte Daniel und nickte zu der Gasse, die sie gerade verlassen hatten.
Melanie zögerte. „Manchmal“, wich sie aus. Sie mochte keine privaten Fragen.
„Und warum kannst du so gut kämpfen?“, wollte er wissen.
Die Frage war Melanie nun doch etwas zu persönlich. Sie spielte mit ihrer pinken Haarsträhne herum. „Nachdem ich ...“ Sie brach ab. Auf keinen Fall würde sie ihm jetzt erklären, dass sie nach einem bestimmten Ereignis im Alter von dreizehn Jahren mit dem Kämpfen angefangen hatte. „Nachdem ich dreizehn wurde, habe ich mich bei Selbstverteidigungskursen angemeldet. Und wenn irgendwo eine Prügelei losgeht, was hier nicht selten vorkommt, mische ich mich eben ein. Ich seh‘ nicht gern zu, wie andere verprügelt werden“, meinte sie und fügte rasch hinzu: „Mit einmischen meine ich, dass ich sie davon abhalte, sich die Köpfe einzuschlagen. Nicht, dass ich mich ins Getümmel werfe.“
„Cool, das machen nicht alle.“ Daniel blickte sie von der Seite her an.
Melanie errötete. „Hier entlang.“ Sie zog ihn nach rechts in eine
Seitengasse, um von sich abzulenken. „Wie alt warst du, als du ins Land der Nacht gegangen bist?“, fragte sie Daniel und drehte somit den Spieß um.
Er überlegte. „13 Jahre, ungefähr.“
Melanie versuchte, sich Daniel als 13-Jährigen vorzustellen – erfolglos, dazu war er zu groß.
Bevor sie ihn zu einer Antwort bewegen konnte, die mehr als zwei Wörter umfasste, sprach er von alleine weiter. „Meine Gabe habe ich entdeckt, als ich quasi in eine See ertrunken bin, bis ich gemerkt habe, dass ich unter Wasser atmen kann. Beim nächsten Vollmond hat mich Emma in die Nähe eines Eingangs gefunden und mit ins Land der Nacht genommen. Meinen … Eltern hab ich das Ganze ein wenig abgewandelt erzählt. Sie stehen nicht so auf das Mystische.“ Er warf ihr einen Blick zu. „Seitdem sind Emma und ich Freunde. Aber so wie Geschwister“, fügte er nachdrücklich hinzu und Melanie lachte verlegen.
„Schon kapiert. Du kannst unter Wasser atmen?“
„Ja, ziemlich cool im Meer.“ Er grinste sie schräg an.
„Glaub ich dir.“ Sie zog es vor, nicht zu erwähnen, dass sie so gut schwimmen konnte wie eine Hauskatze. „Ihr habt einen Strand?“ „Ja, ich kann ihn dir mal zeigen“, antwortete Daniel.
Oh nein, der Schuss ging total hinten los.
„Wir müssen abbiegen. Hier rechts. Dauert nicht mehr lange“, sagte sie, anstatt eine Antwort auf sein Angebot zu geben, und wich seinem Blick aus. „Woher kommst du denn? Also, wo hast du zuvor gelebt?“ Sie war sich bewusst, dass dies zwei verschiedene Fragen waren, aber aus Erfahrung wusste sie ebenfalls, dass nicht alle Menschen erstere beantworten wollten.
Tatsächlich wich er der Frage aus. „Ich komme aus Miami.“ Mit einer Hand fuhr er sich durch seine Locken und sein Blick glitt über die Straße, weg von Melanie.
„Miami?“, fragte Melanie ungläubig nach und hob die Augenbrauen. Er sah nicht wie ein Typ aus Miami aus …
„Ich habe in Amerika gelebt“, betonte er und warf ihr kurz einen Blick zu. „Aber ich wuchs in einem spanischsprechenden Viertel auf.“ Nervös spielte er mit seinem Shirt. „Ursprünglich komme ich aber aus Jamaika“, beantwortete er die eigentliche Frage doch noch hastig.
Also stimmte das Latino.
„Ach so.“ Plötzlich war ihr ihre Frage peinlich, vor allem, da sie sah, dass er nicht darüber sprechen wollte. „Ich komme nur von hier.“ Sie machte grinsend eine ausholende Bewegung auf die Straße. „Da müssen wir übrigens rein.“ Melanie zeigte auf das klassische Haus direkt vor ihnen, froh, das Thema auf etwas anderes lenken zu können. Das würde vielleicht das letzte Mal für eine lange Zeit sein, dass sie ihr Haus sah.
„Gut, hast du eine Schlüssel?“ Daniel sah das Haus neugierig an.
„Ja.“ Melanie nahm den Karabinerhaken von ihrer Gürtelschlaufe, ging bis vors Haus und öffnete die Tür. Daniel folgte ihr hinein und sah sich vorsichtig um. Bevor sie ihren schwarzen Koffer holte, zeigte Melanie ihm noch die Küche und das Wohnzimmer und führte ihn anschließend in ihr Zimmer. Dann begann sie, sämtliche Kleider einzupacken, die sie in ihrem Schrank fand. Da Daniel ihr zur Hilfe kam, ging das Ganze ziemlich schnell und er arbeitete effizient mit.
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