In dem Augenblick trat eine alte Dame aus der Kirche und sah ihn im Schatten dort liegen. »Was machen Sie da, guter Freund?«
Er fuhr heftig auf: »Sie sehen ja, gute Frau, ich lege mich schlafen.«
Die gute Frau, die auf diese Benennung ein volles Recht hatte, war die Frau Marquise von R.
»Auf diese Bank?«
»Ich habe neunzehn Jahre lang auf einer hölzernen Matratze gelegen, so kann ich auch einmal auf einer steinernen schlafen.«
»Sie sind Soldat gewesen.«
»Ja wohl, gute Frau.«
»Warum gehen Sie nicht in eine Herberge?«
»Weil ich kein Geld habe.«
»Leider habe ich nur vier Sous bei mir.«
»Geben Sie sie mir.«
Die Marquise gab ihm das Geld und fuhr fort: »Mit so wenig können Sie keine Unterkunft in einer Herberge bekommen. Aber haben Sie's wenigstens versucht? Sie können doch nicht die Nacht unter freiem Himmel zubringen, Sie haben ohne Zweifel Hunger und frieren. Man hätte Sie aus Mitleid aufnehmen können.«
»Ich habe an alle Thüren geklopft.«
»Und?«
»Sie haben mich überall hinausgeworfen.«
Die gute Frau berührte den Mann am Arme und zeigte ihm ein kleines niedriges Haus, das auf der andern Seite des Platzes neben dem bischöflichen Palast stand.
»Sie sagen, Sie haben an alle Thüren geklopft?«
»Ja.«
»Auch an die da drüben?«
»Nein.«
»Nun dann, klopfen Sie einmal da an.«
II. Alltagsweisheit und Philosophie
An demselben Abend war der Herr Bischof nach seinem Spaziergange in der Stadt lange auf seinem Zimmer geblieben. Er arbeitete damals gerade an einem größeren Werke über die Pflichten, das leider unvollendet geblieben ist. Zu diesem Zwecke sammelte er alles, was die Kirchenväter und andere Autoritäten über diesen bedeutungsvollen Gegenstand gesagt haben. Sein Buch zerfiel in zwei Theile; erstens die Pflichten Aller; zweitens die Pflichten des Einzelnen, je nach seinem Stande, Berufe, Alter, Geschlecht u. s. w. Die Pflichten Aller, lehrte er, sind die wichtigsten. Sie zerfallen in vier Unterarten, die uns Sankt Matthäus bezeichnet: die Pflichten gegen Gott (Ev. Matth. Kap. 6), gegen sich selbst (Ev. Matth. Kap. 5 V. 29 und 30), gegen den Nebenmenschen (Ev. Matth. Kap. 7 V. 12).
Was die übrigen Pflichten anbelangt, so hatte der Bischof sie in andern Schriften der Bibel gefunden; die der Herrscher und Unterthanen in der Epistel an die Römer; die der Richter, der verheirateten Frauen, Mütter und jungen Männer, in der Epistel des heiligen Petrus; die der Ehemänner, Eltern, Kinder und Diener in der Epistel an die Epheser; die der Gläubigen in der Epistel an die Ebräer; die der Jungfrauen in der Epistel an die Korinther. Alle diese Vorschriften faßte er mit mühseligem Fleiße zu einem übersichtlichen Ganzen zusammen, das er den Gläubigen widmen wollte.
An diesem Abend arbeitete er noch fleißig um acht Uhr und schrieb, ein großes offenes Buch über den Knieen, in unbequemer Haltung auf kleinen Zetteln, als Frau Magloire hereinkam, das Silbergeschirr aus dem Wandschrank zu holen. Ein Weilchen nachher, als er merkte, daß der Tisch gedeckt war und seine Schwester vielleicht auf ihn wartete, klappte er sein Buch zu, stand vom Tische auf und begab sich in das Speisezimmer.
Es war dies ein rechteckiger Raum mit Kamin, Eingangsthür nach der Straße zu und einem Fenster, das auf den Garten hinausging.
Frau Magloire hatte in der That schon gedeckt und plauderte, während sie im Zimmer hantierte, mit Fräulein Baptistine.
Auf dem Tische, der sich nahe dem Kamin befand, stand eine Lampe und in dem Kamin brannte ein leidlich gutes Feuer.
Man kann sich leicht eine Vorstellung machen von den beiden Frauen, die beide sechzig Jahre hinter sich hatten: Frau Magloire klein, gut beleibt, lebhaft; Fräulein Baptistine sanft, hager, schwächlich, etwas größer, als ihr Bruder, in einer Robe von flohfarbener Seide, wie es 1806 Mode war, die sie damals in Paris gekauft hatte, und die immer noch vorhielt. Um uns einer volksthümlichen Redewendung zu bedienen, – die aber trotz ihrer Kürze inhaltsvoller ist, als eine seitenlange Beschreibung, – so hatte Frau Magloire das Aussehen einer Bäuerin und Fräulein Baptistine das einer Dame. Frau Magloire trug eine in Röhrenfalten gelegte weiße Haube, um den Hals ein Sammetband mit einem goldnen Kreuz, auf dem ein Herz lag, dem einzigen Frauenjuwel übrigens, das sich im Hause befand. Bekleidet war sie mit einem schneeweißen Brusttuch, einem Kleide aus grobem schwarzen Wollstoff mit weiten kurzen Aermeln, einer roth und grün karrirten Kattunschürze, die mit einem grünen Bande um die Taille gebunden war, und deren gleichartiger Latz an den oberen Ecken durch zwei Stecknadeln festgehalten wurde. Dazu an den Füßen grobe Schuhe und gelbe Strümpfe, wie sie von den Frauen in Marseille getragen wurden. Fräulein Baptistines Robe war nach Mustern aus dem Jahre 1806 zugeschnitten; mit kurzer Taille, engem Rock, Achselbändern, Patten und Knöpfen. Ihre grauen Haare verbarg sie unter einer Kräuselperrücke à l'enfant. Frau Magloires Gesichtszüge ließen auf Klugheit, Lebhaftigkeit und Herzensgüte schließen; nach den ungleich aufgezogenen Mundwinkeln und nach der Oberlippe, die dicker war als die untere, zu urtheilen, mußte sie brummig und rechthaberisch sein. In der That führte sie Sr. Bischöflichen Gnaden gegenüber, wenn Dieselben schwiegen, eine bei allem Respekt freimüthige Sprache; aber sobald Sr. Gnaden das Wort ergriffen, gehorchte sie, wie wir schon oben gesehen haben, so passiv wie ihr gnädiges Fräulein. Fräulein Baptistine, that dann nicht einmal den Mund auf. Sie beschränkte sich darauf, zu gehorchen und ihrem Bruder zu Gefallen zu handeln. Auch in ihrer Jugend war sie nicht hübsch gewesen. Sie hatte große, blaue, hervorstehende Augen und eine lange, gebogene Nase; aber ihr ganzes Antlitz, ihr ganzes Wesen athmete eine unbeschreibliche Güte. Von jeher sanftmüthig veranlagt, hatte sie sich durch herzerwärmende Tugenden des Glaubens, der Liebe, der Hoffnung allmählich zur Heiligen vervollkommnet. Von Natur nur ein Lamm, hatte die Religion sie zu einem Engel gemacht. Armes frommes Fräulein! Welche theure Erinnerungen weckt Dein sanftes Bild in dem Gedächtniß Derer, die Dich kannten!
Was sich nun an jenem Abend in dem Hause des Bischofs Alles ereignete, hat Fräulein Baptistine so oft erzählt, daß sich mehrere Leute, die noch heute leben, an alles bis auf die geringfügigsten Einzelheiten, genau erinnern können.
Frau Magloire sprach, als der Bischof in das Speisezimmer trat, mit großer Lebhaftigkeit über ihr Lieblingsthema, das ihr Herr geduldig über sich ergehen zu lassen pflegte, nämlich über die Klinke der Straßenthür.
Sie hatte während sie Einkäufe für das Abendessen besorgte, gar schlimme Neuigkeiten gehört. Es hieß ein Strolch, ein gefährlicher Landstreicher sei angekommen und treibe sich gegenwärtig in der Stadt herum, und wer heute Abend spät nach Hause komme, dem könne leicht etwas Unangenehmes begegnen. Die Polizei thue leider ihre Schuldigkeit nicht, indem der Herr Präfekt und der Herr Bürgermeister keine Freundschaft hielten und es gerne sähen, wenn ein Unglück passiere. Das würde ihnen eine prächtige Gelegenheit geben, den Andern als den schuldigen Teil hinzustellen. Die gescheidten Leute sollten also hübsch selber über ihre Sicherheit wachen. Selbstredend müsse ein Jeder sein Haus verschließen, verriegeln, verrammeln und ja die Thüren ordentlich zumachen.
Frau Magloire betonte das Wort Thüren mit großem Nachdruck; aber der Bischof, den in seinem ungeheizten Zimmer gefroren hatte, saß vor dem Kamin, und wärmte sich; abgesehen hiervon hing er noch andern Gedanken nach. Er beachtete also Frau Magloires energischen Wink nicht besonders, und sie sah sich genötigt, ihn zu wiederholen. Da mischte sich Fräulein Baptistine in das Gespräch und fragte, um es Frau Magloire recht zu machen, ihrem Bruder aber nicht zu mißfallen:
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