»Bitte kommen Sie heute vorbei.« Sein bettelnder Tonfall war nicht eben hilfreich, meinen Mitleidspegel und in weiterer Folge mein Reuegefühl zu mindern.
»Das Gespräch letzte Woche gefiel mir sehr«, übergoss er seine Überredungskünste mit Zuckerguss. »Ich fand es schade, dass Sie so schnell verschwanden.«
Ich seufzte.
Was sollte ich machen?
Einerseits lag er im Recht. Ich hatte ihn zu Boden geworfen. Andererseits war es eine Frechheit, dies auf eine solche unverschämte Methode einzufordern.
Und dann erst dieser Dackelblick!
Bestimmt war es ihm genauestens bewusst, wie sehr seine Gesichtsakrobatik bei Frauen zog.
Verdammt noch einmal!
»Wie lange wollen Sie mich derart intensiv anstarren?«
»Bis Sie nachgeben.«
Ha! Da hatten wir es! Alles ein perfekt kalkuliertes Schauspiel!
Aber okay. Ich würde ihm diese Bitte erfüllen. Danach war jedoch Schluss. Kein weiterer Lokalbesuch mehr, keine Gedankenspielereien über Tom mehr. Gar nichts mehr!
»Nun gut.« Ich kratzte mich an der Nase. »Ich werde kommen.«
In Toms Angesicht ging die Sonne auf. »Wirklich? Ja? Das freut mich unwahrscheinlich!«
»Aber mehr brauchen Sie nicht einzufordern.«
»Natürlich nicht.« Beschwichtigend hob er die Hände. »Ausschließlich dieser Abend.«
»In Ordnung. Wann soll ich vorbeischauen?«
»Ab zehn.«
»So spät?«
Ich war kein Nachtmensch. Ganz und gar nicht. Bereits deshalb ging ich abends äußerst ungern außer Haus.
»Wann öffnet die Bar denn?«
»Um neun. Doch ab fünfzehn nach neun spiele ich für eine knappe dreiviertel Stunde.« Unbeholfenes Herumfuchteln seiner rechten Hand evozierte eine sachte Nervosität in mir. »Da ich mich mit Ihnen unterhalten möchte, ist es somit besser, wenn Sie erst ab zehn Uhr eintreffen.«
Weshalb wollte Tom nicht vor mir spielen? War er solcherweise schlecht?
»Schämen Sie sich, vor mir zu musizieren?«
Offenkundiger Schock flog über seine Züge und wurde unmittelbar darauf von eklatanter Unsicherheit verdrängt. Hiervon bezeugten seine sich wellenden Augenbrauen wie der sich senkende Blick Richtung Boden. »Nun … ich mag es nicht sonderlich, wenn Leute mir zuhören, die mich kennen.«
Hä?
»Ihnen ist bewusst: Es gibt Stammgäste im Lokal, oder?«
Er errötete. »Ja, allerdings spreche ich in diesem Fall nicht von diesen.«
Aha …
»Von welcher Klientel sprechen Sie dann?«
»Für Personen, welche sich nicht sonderlich für meine Wenigkeit interessieren –« Er stockte. »Oder für Personen, welche mich nicht sonderlich interessieren, spiele ich grundsätzlich gerne. Bei allen anderen dagegen nimmt der Druck zu große Ausmaße an. Dadurch passieren mir Fehler. Ich hasse es, wenn mir Fehler passieren.« Die letzten drei Sätze ratterte er in einem irrsinnigen Tempo herunter, ich wäre beinahe nicht mitgekommen. »Kommen Sie einfach um zehn.« Dies gesprochen drehte er sich um und eilte davon.
Was, zur Hölle, sollte das nun bedeuten?
Anscheinend hatten einige Kunden unser Gespräch belauscht, starrten diese mich gefühlsmäßig genauso verdattert an wie ich dem davoneilenden Tom.
Wie war das gewesen … was hatte Tom exakt erwidert? Er spielte einzig für Leute gerne … die sich nicht für ihn interessierten … oder für die er sich nicht interessierte?
Allmählich begann ich zu verstehen – womit eine brutale Hitzewelle über mich herniederbrach.
Interessiert Tom sich für mich … ?
Hatte ich das richtig deduziert?
Gesenkten Hauptes schob ich meinen Einkaufswagen zur Obstabteilung, gleichermaßen wie ich sämtliche Überlegungen beiseiteschob.
Ziehe keine voreiligen Schlüsse! Sei kein Naivling, sondern eine erwachsene Frau!
In einem tranceartigen Zustand erledigte ich meine restlichen Einkäufe und fuhr nach Hause. Ob ich an roten Kreuzungen anhielt oder Fußgeher über Zebrastreifen passieren ließ, war mir unmöglich zu sagen.
Dieser unwirkliche Zwischenfall war zu viel für meine Nerven.
Unterdessen ich die Lebensmittel verstaute, nahm mein vernebeltes Gehirn stückchenweise an Fahrt auf.
Bedeutete ich Tom tatsächlich etwas? Ging es ihm womöglich gar nicht um einen One-Night-Stand?
Ich verwarf diesen aus Dummheit, Unbedarftheit und Wunschdenken geborenen Irrsinn.
Hier ging es um gar nichts. Gewiss hatte ich es falsch aufgefasst – genauso wie ich in der Vergangenheit dutzende menschliche Reaktionen falsch aufgefasst hatte.
Nach einem schmackhaften Mittagessen, welches aus gebratenem Hühnerfleisch mit einer dunklen Soße und Jasminreis bestanden hatte, hockte ich mich auf die verhasste Couch und griff nach dem Taschenbuch.
Ein wenig lesen und ausrasten, dachte ich. Dann kümmere ich mich um die Vorhänge.
Jäh erschien Tom mitsamt flehentlichem Gesichtsausdruck vor mir.
Sollte ich ihn besuchen?
Die tiefen Temperaturen und die späte Uhrzeit gingen mir gehörig gegen den Strich. Diese beiden Dinge außer Acht gelassen, liebte ich Saxofonklänge.
Dies war einmal anders gewesen. In meiner Kindheit hatte ich dieses Instrument regelrecht gehasst. Wahrscheinlich aufgrund seines romantisch-sexuellen, verträumten Klangs. Töne, Klangfarben, Stimmen – seit jeher war ich überdurchschnittlich empfänglich für Geräusche aller Art. Ebendrum hielt ich lautes Menschengetratsche, extrem aufgedrehte Musik sowie Straßen- und Maschinenlärm nicht lange aus.
Da Verwandte, Schulkollegen und Bekannte regelmäßig über meine Vorlieben und Meinungen hergezogen waren und Lehrer mir auf erniedrigende psychologische Weise meine Andersartigkeit – aber vor allem Dummheit – unter die Nase gerieben hatten, hatte ich gelernt, mich abzukapseln. Ich hatte gelernt, nichts über meine Wünsche oder Sehnsüchte zu verlauten. Ich hatte gelernt, keine Fragen zu stellen und nicht aufzufallen. Und ich hatte gelernt, alles zu verachten, was mit Schwäche, Romantik und zwischenmenschlichen Kontakten zusammenhing. Neben Verliebtheit und Schwärmereien fiel in diese Rubrik ebenfalls das Saxofon.
Vor einigen Jahren hatte sich diese Aversion gelegt. Höchstwahrscheinlich trug meine Begierde nach Liebe und Geborgenheit daran Schuld sowie das Wissen, in meinem nunmehrigen Alter nicht mehr veräppelt werden zu können. Besonders dann nicht, wenn ich weiterhin nichts von meinen Sehnsüchten offenbarte.
Ich legte das Buch in meinen Schoß und massierte mir die Schläfen.
Manchmal hasste ich mich dafür, meiner Schwäche nachgegeben zu haben, ab und an versucht zu haben, einen Freundeskreis aufzubauen. Andauernd hatte man mich versetzt, mich stehengelassen, mich belogen, mich ignoriert, mich belächelt.
Menschen sprachen von Hartnäckigkeit und Durchhaltevermögen. Doch wozu durchhalten und es immer wieder versuchen, wenn es in all den Jahrzehnten nie funktioniert hatte? Andere Menschen mussten sich vielleicht mit ein oder zwei Rückschlägen abfinden. Ich hingegen war nie ernsthaft gemocht worden. Hatte ich beispielsweise einen Schulkollegen nett gefunden, war der nicht an mir interessiert gewesen. Hatte ich einen Kursteilnehmer nett gefunden, war der nicht an mir interessiert gewesen. Hatte ich einen Arbeitskollegen nett gefunden, war der nicht an mir interessiert gewesen. Nun war ich dreißig Jahre alt, und alles, was ich durfte, war auf eine mich ausbeutende Beziehung zurückzublicken.
Und dann tauchte da plötzlich Tom auf, dem ich möglicherweise ein klitzekleines Bisschen gefiel.
Was sollte ich von alldem halten?
Ich schloss die Lider.
Irgendwie hätte ich Tom gerne spielen gehört. Seine introvertierte wie extrovertierte Art in einem Musikstück zu erleben, erweckte eine selbst mich überraschende Neugier in mir.
Ach, vergiss es!
Ich lehnte mich zurück und suchte die Taschenbuchseite, auf welcher ich letztens stehengeblieben war.
Читать дальше