Aufzüge mied ich seit jeher – nicht aufgrund einer Agoraphobie meinerseits, sondern einzig, weil ich mit fremden Menschen weder für wenige Sekunden noch für Stunden auf engstem Raum eingeschlossen sein wollte.
Niemand wusste, wann der Strom ausging, die Elektronik den Geist aufgab oder sogar das Aufzugsseil riss … Stufen waren da weitaus sympathischer und ungefährlicher. Zudem tat man etwas für seine Figur, und man blieb Herr über seiner selbst.
Im ersten Stock gelandet, hielt ich mich weiter rechts und betrachtete die aneinandergereihten Geschäfte. Ein Jedes davon war unverhältnismäßig gut besucht. Ich nahm die Rolltreppe nach unten, um mich darauffolgend durch lärmende Menschenmengen zum groß angelegten Lebensmittelgeschäft durchzuschlagen.
Die enorme Fläche in der Mitte des Komplexes war heute – von den Kunden einmal abgesehen – vollkommen leer. Dies sah zu Ostern oder Weihnachten anders aus. Dann wurden winzige aus Holz gefertigte Markthäuschen aufgestellt, bei welchen man allerlei Selbstgebasteltes, wie Geschenk- und Dekorationsartikel, erstehen konnte.
Eine mich zur Seite schupsende Gruppe frecher Jugendlicher erhitzte mein Gemüt. Die mich umringenden laut tratschenden und lachenden Leute gaben mir den Rest.
Ich hasste Menschenansammlungen – aus tiefster Seele. Am grausigsten war es im Dezember: Die gehetzten Leute brachten mich dergestalt aus dem Konzept, sodass ich manchmal sogar vergaß, was ich einkaufen wollte. Die ausgesendeten Emotionen der Menge legte sich um meine Sinne, verdunkelte meine Sicht. Da fühlte ich mich wie ein eingeschüchtertes wildes Tier in einem Käfig umringt von mich neugierig musternden Zirkusbesuchern …
Je näher ich dem Lebensmittelgeschäft kam, desto voller wurde es.
Das Villacher Einkaufszentrum erfreute sich zwar Jahr und Tag großer Beliebtheit, heute erinnerte mich dieser Andrang aber eher an die letzten Einkaufstage vor Weihnachten.
Hatten die Menschen etwa noch einen kläglichen Rest an natürlichen Instinkten bewahrt? Die Wetterprognose sagte für die nächsten Tage nämlich weitere tiefe Temperaturen und sogar etwas Schnee voraus.
Der Gedanke an die weiße, glitzernde Pracht vermochte es, meine Stimmung minimal anzuheben.
Ich liebte Schnee!
Die weichen durch die Luft tanzenden Flocken … eingeschneite durch Sonnenstrahlen dramatisch in Szene gesetzte Bäume …
Hoffentlich würde eine erhebliche Menge dieses wundervollen Naturschauspiels fallen. November und Dezember hatten sich durchwegs trocken gezeigt. Die Schneepisten erstrahlten in einem herbstlichen Grün. Einzig der Atem des Winters hatte Wälder und Wiesen ein zärtliches Weiß geschenkt.
Die anhaltenden trockenen Wintermonate brachten die Skination Österreich ganz schön in Bedrängnis. Seit vielen Jahren jammerte der Tourismus über den akuten Schneemangel. Die Schneekanonen waren niemals imstande das Verlangen der Urlauber und Einheimischen nach frischem Neuschnee zu stillen. Folglich wurde geraunzt und Stellen abgebaut, oder in Wellnessanlagen investiert.
Meine Handtasche fest an mich gedrückt wich ich einer zweiten Gruppe lachender Jugendlicher aus.
Wann würden die Menschen verstehen, dass wir mit der Natur leben müssen – und nicht dagegen? Einst entstiegen wir der Erde und letzten Endes gingen wir wieder dorthin. Ein ewiger Kreislauf. Dolme, die es nicht begriffen.
Ich holte eine Eineuromünze hervor und steckte diese in das Pfandschloss eines der vielen Einkaufswagen, welche zu einer eisernen Schlange neben den Aufzügen aufgereiht worden waren, entfernte die Sperrkette und zog den Wagen zurück, um mich sodann in das Lebensmittelgeschäft zu begeben.
Unzählige Dinge türmten sich vor mir auf: Kinderspielzeug, tausende Hygieneartikel, Waschmittelpackungen in allerlei Formen und Farben, Kleidung, meterlange Kühl- und Gefrieranlagen. Aber die Dekadenz schlechthin folgte erst: Dreißig verschiedene Sorten Mineralwasser – und das waren bloß die ohne Geschmack … Und in einem Dritte-Welt-Land verdursteten Menschen angesichts der Tatsache, dass der von ihrem Heimatdorf drei Stunden entfernt gelegene Brunnen von einer großen Lebensmittelmarke aufgekauft worden war und deshalb nicht mehr für die Einheimischen zur Verfügung stand.
Es war ein Albtraum! Ein einziger langer, nicht enden wollender Albtraum.
Ich atmete tief durch und machte mich ans Werk.
Jammern half bekanntlich nichts! Erst recht nicht konnte ich alleine etwas gegen diese und andere Ungerechtigkeiten der Welt anrichten. Gleichwohl zeigte ich meinen Groll, indem ich hauptsächlich Waren einheimischer Firmen und Bauern kaufte. Zumindest so oft es mir möglich war. Im Gegensatz zu den nicht nachhaltig hergestellten importierten Lebensmitteln waren regionale Produkte bekannterweise empfindlich teurer – womit ich wesentlich genauer auf meine Finanzen achten musste.
Mehl, Zucker, Backpulver, Kartoffeln und Hühnerfleisch fanden ihren Weg in meinen Wagen. Ebenso Milch, Butter, Margarine, Salz und Joghurt. Nun fehlten noch Holunderblütensirup, Salat, Äpfel, Bananen und – ganz wichtig – eine Zahnbürste und eine Tube Zahncreme.
Ich drehte den Einkaufwagen mit Schwung zurück – und stieß gegen irgendjemanden.
Zuerst vernahm ich einen Ausruf der Verwunderung, anschließend erblickte ich einen schwarzen Mantel sowie einen Schal in derselben Farbe. Letztgenannter bauschte sich durch meinen Stoß und den daraus resultierenden Sturz des Unglücklichen erst unbeschreiblich elegant in der Luft auf, ehe dieser genauso tollpatschig wie sein Besitzer auf dem Fliesenboden landete.
Es wurde mir heiß, darauf kalt und schlussendlich fing mein Herz wie verrückt zu hämmern an.
Herrgott!
Wenn der Mensch sich nun etwas gebrochen hatte?
So gut versichert war ich nicht!
Mit einem Kribbeln im Hinterteil hockte ich mich zu dem Gestürzten.
Die Person war ein Mann, wahrscheinlich in meinem Alter, mit kupferbraunem Haar – beinahe dieselbe Farbe, wie ich sie mein eigen nennen durfte. Sein Gesicht hatte er von mir weggedreht. Folglich war es mir unmöglich zu sagen, ob er bewusstlos, tot, angefressen oder schlichtweg geschockt war.
»Habe ich Sie verletzt?«, fragte ich besorgt.
Wenn er nun wahrhaftig tot war, was dann? Würde ich wegen Totschlags angeklagt werden?
Dieser Vermutung folgte eine zweite über meinen Rücken kriechende eisige Kälte.
»Nein, sorgen Sie sich nicht«, hörte ich den Unglücklichen jäh sagen.
Mir fiel die halbe Gerlitzen vom Herzen.
Gott sei Dank war er ansprechbar!
Obwohl die Erleichterung und das ausgeschüttete Adrenalin mich dezent benebelten, konnte ich mich nicht des Eindrucks erwehren, die Stimme des Unbekannten von irgendwo her zu kennen.
Bloß von woher?
»Mir geht es gut.« Diese Worte gesprochen stemmte sich der Mann behäbig hoch, drehte sich zu mir – und mich traf der Schlag.
Diese Augen.
Himmelherrgottsakrament! Es war Tom!
Was machte der denn hier?!
Geschockt, verwundert, verwirrt besah er mich … Mit großer Wahrscheinlichkeit schaute ich in dem Moment ebenso bescheuert drein wie er … Aber diese Augen! Dieser Ausdruck! Diese eigenartige, sich über mich legende Einigkeit …
Weder konnte ich mich von Tom abwenden geschweige denn mich bewegen. Ich fühlte mich wie hypnotisiert. Hypnotisiert von diesen wunderschönen graublauen Augen.
Graublau. Das schönste Graublau, das ich jemals in meinem Leben gesehen hatte.
»Ist Ihnen etwas passiert? Soll ich einen Arzt rufen?«, vernahm ich die weibliche Stimme eines Kunden, wodurch ich halbwegs zur Besinnung kam.
»Nein, nein«, beschwichtigte Tom teilnahmslos, unterdessen er mich weiterhin anstarrte und gleichzeitig mit seiner linken Hand unbeholfene Gesten Richtung Kundschaft vollführte. »Mir geht es gut.«
Читать дальше