Langsam ließ sie ihre Arme sinken und setzte sich schwerfällig auf. Sie war dem Albtraum nochmal entkommen. Doch ein stechender Schmerz an ihrem Arm, auf den sie sich stützte, ließ sie zusammenzucken.
„Hat die Hexe dich wieder verfolgt?“, fragte Nancy mit einem missbilligenden Unterton, worauf Nellie nur schwach nickte.
Ihre Zwillingsschwester kannte diese Gestalt bereits von vielen Erzählungen und hatte sie sogar einmal persönlich zu Gesicht bekommen.
Vorsichtig schob Nellie den Ärmel ihres Nachthemdes hoch und presste weinerlich ihre Lippen aufeinander als sie die Wunden erkannte, die ihr im Traum zugefügt wurden. Nancy fielen sie ebenfalls auf, doch bevor sie die Verletzung näher betrachten konnte, schlang Nellie schluchzend die Arme um ihren Oberkörper.
Es wurde tatsächlich mit jedem Traum schlimmer. Irgendwann würde sie nicht mehr erwachen, davon war sie überzeugt. Sie könnte ihrer Verfolgerin nicht ewig davonlaufen. Vor allem nicht, wenn sie mächtiger wurde. Nellie war nicht so stark, dass sie wie heute immer und immer wieder aufstehen könnte. Was sollte sie tun, wenn sie das nächste Mal noch schlimmere Verletzungen davontragen würde?
Von der Furcht in ihrem Herzen angefacht, erstrahlte ein helles Licht von Nellies Handgelenk aus, das die Schwestern in seinen Schein hüllte. Frustriert betrachtete sie das Mal, das ihre Verletzlichkeit präsentierte. Gleichzeitig erklang neben ihrem Bett ein bekanntes Klappern. Sie brauchte nicht hinzusehen, um zu wissen, dass die Horrorpuppe erschienen war, die Nellie am liebsten heimsuchte, wenn sie Angst zeigte.
Sie war eine kleine Porzellanpuppe mit zerzausten schwarzen Haaren. Durch das Weiß ihrer Haut stachen die pechschwarzen Augenlöcher deutlich hervor. Ebenso wie die Blutflecken an ihrem gesamten Körper. Passend zu dem mörderischen Anblick war ihr einstmals elegantes Kleid mit weißer Schürze löchrig und hing hier und da in Fetzen hinab.
Das Furchterregendste jedoch war, dass sie sich selbstständig bewegen konnte. Wann immer sie aus dem Nichts auftauchte, war es ihr einziges Ziel Nellie zu erreichen und mit ihren kalten, steifen Fingern zu berühren. Sie war eine Figur, die aus einem Albtraum stammte und doch real für das Mädchen war.
Abschätzig sah Nancy die Illusion an, die versuchte nach der Matratze zu greifen, und schob sie achtlos von sich. Im Gegensatz zu diesem groben Verhalten verdeckte sie mit einer sanften Berührung das Mal mit der nach links geneigten Waage auf dem Handgelenk ihrer Schwester, wodurch das Leuchten gedämpft wurde. Die andere Hand legte sich auf Nellies Wange und zwang sie, zu ihr aufzusehen. Die vertraute Kälte, die von der Haut der Älteren ausging, hatte etwas Beruhigendes, sodass der stumme Tränenfluss versiegte.
„Ich werde einen Weg finden, die Hexe zu besiegen.“
Das zuversichtliche Lächeln konnte Nellie nicht erwidern, noch weniger, als ein Klopfen an ihrer Tür erklang und die Stimme ihres Vaters fragte: „Nellie? Ist alles in Ordnung?“
Alarmiert sah sie zu der Puppe, die sich wieder auf den Weg zu ihrem Bett machte und die ihr Vater sehen würde, sobald er eintrat. Auch Nancy war sich dessen bewusst, weswegen sie sofort handelte und einen Arm zur Tür streckte. Auf ihren lautlosen Befehl hin vereiste das Schloss und machte es unmöglich, den Griff zu betätigen. Gerade rechtzeitig, da das leise Rütteln verriet, dass der zweifache Vater eintreten wollte. „Mädchen? Was ist los?“
Es tat Nellie leid, die Sorge zu hören, die allein ihr galt, doch hinter das Geheimnis der beiden Andersartigen durfte er nicht kommen.
„Es ist alles okay, Dad“, antwortete die Ältere der Schwestern stattdessen, „Nellie hatte wieder einen Albtraum, aber ihr geht es gut.“
Schuldbewusst senkten sich Nellies Augen zu ihrem verletzten Arm. Sie hasste es, ihre Eltern anlügen zu müssen, aber wie sollte sie erklären, dass eine Gestalt in ihren Träumen sie regelmäßig terrorisierte und sogar in der Realität gewalttätig wurde? Das würden sie niemals verstehen können.
„Okay… Wenn du etwas brauchst, sag Bescheid, Engel.“ Zögernd erklangen die sich entfernenden Schritte von Henry.
Nancy wandte sich wieder ihrer Schwester zu und strich beruhigend über ihren Unterarm, auf dem die Kälte eine leichte Gänsehaut hinterließ. Bevor sie jedoch etwas sagen konnte, fasste Nellie nach ihrer Hand und suchte den Blick der ähnlichen Augen. Ungewohnt entschlossen zeigte sie sich, als sie ihrer Zwillingsschwester ihre Entscheidung mitteilte: „Ich werde zur Morrison Memorial gehen.“
Morrison Memorial
02.09.2018 – früher Nachmittag
Morrison Memorial, Jungentrakt
Das alles fühlte sich wie ein Traum an. Wie einer dieser Träume, in denen man sich an magischen Orten befand und eine fremde Welt entdeckte. Oder in jenen, in denen man endlich ein lang ersehntes Ziel vor Augen hatte und seine geheimen Wünsche ausleben durfte. Trotz all der Freude oder Aufregung, die man dabei verspürte, wusste das Herz tief im Inneren immer, dass es nur Träume waren und man von einer Sekunde auf die andere in seiner bekannten Umgebung aufwachen würde.
Aber das hier war anders, so schwer es Maxim fiel, es zu realisieren. Noch vor vier Stunden war er in Deutschland gewesen und konnte sich am Flughafen kaum vor den tränenreichen Abschiedsküssen und Umarmungen seiner Mutter retten, während seine Geschwister darum wetteten, wie lange er es alleine in einem fremden Land aushalten würde. Der Mindesteinsatz waren zwei Wochen, während seine ältere Schwester ihm zumindest einen ganzen Monat zutraute.
Ein Hauch von Wehmut mischte sich in das breite Grinsen, das der Junge seit seiner Ankunft auf dem Schulgelände trug. Er war noch nie länger als eine Klassenfahrt lang von seiner Familie getrennt gewesen und er würde lügen, würde er sagen, dass er nicht bereits etwas Heimweh verspürte. Dennoch war das hier eine unglaubliche Gelegenheit, die nur wenigen Personen ermöglicht wurde. Es war eine Ehre für ihn unter den Auserwählten des Stipendiums und nun Teil einer der bekanntesten Eliteschulen der Welt zu sein. Ein gewisser Leistungsdruck machte sich bemerkbar, den er zuvor nie verspürt hat, doch Maxim war optimistisch, dass er sein Bestes geben würde.
Außerdem war er gar nicht allein, selbst wenn er viele hundert Kilometer von Zuhause entfernt war. Als wäre sein Glück nicht bereits groß genug, dass er an der Morrison Memorial School angenommen wurde, waren zwei seiner Freunde ebenfalls hier. Sie würden schon aufeinander aufpassen.
Maxim konnte die Freude, die drohte aus ihm herauszuplatzen, kaum bei sich halten und dass sein Grinsen von einem Ohr zum anderen reichte, genügte ebenfalls nicht, um das ganze Ausmaß zu erfassen. Ein letztes Mal blickte er auf das Namensschild, das neben der Zimmertür hing, hinter der er gerade seine Koffer verstaut hat. Neben den drei bekannten Namen war noch ein Fremder dabei, doch der Blondschopf hatte keine Zweifel daran, dass er sich auch mit seinem neuen Zimmergenossen gut verstehen würde.
Voller Tatendrang und unfähig seine Energie noch weiter zurückzuhalten wollte Maxim sich das Schulgelände ansehen, das in den nächsten drei Jahren sein zweites Zuhause sein würde. Am liebsten hätte er sich dafür seinen besten Freund geschnappt, der sich hier bereits auskannte, aber ihre Wege würden sich schon früh genug kreuzen.
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