Kapitel 3 Kapitel 3
Morgenmuffel
Kapitel 4 Kapitel 4
Schlafwandeln
Kapitel 5
Spuk
Kapitel 6
Selbstverteidigung
Kapitel 7
Konkurrenz
Kapitel 8
Fürsorge
Kapitel 9
Anderswelt
Kapitel 10
Menschsein
Kapitel 11
Freund
Kapitel 12
Annäherung
Kapitel 13
Beute
Kapitel 14
Atemlos
Kapitel 15
Fuchsbrüder
Teaser
Danksagung
Egal wie weit sie lief, die gierige Schwärze veränderte sich nicht. Sie zog den zierlichen Körper mit jedem Schritt mehr in ihren Schlund.
Es fühlte sich an, als würde Nellie seit vielen Stunden umherirren, ohne, dass sie etwas anderes zu sehen bekam. Sie vermutete, dass sie sich in einem Gang befand, weil sie bei jedem Versuch zur Seite auszuweichen, gegen ein unsichtbares Hindernis stieß. In Wirklichkeit sah sie nichts und war sich nicht einmal sicher, ob sie auf festem Boden lief. Denn hin und wieder gab er unter ihren Füßen nach oder ein Beben versuchte ihr Gleichgewicht zu rauben.
Das Einzige, das sie neben dem Rauschen ihres Blutes hören konnte, waren die bedrohlichen Schritte hinter sich.
Wann immer Nellie einen Blick über ihre Schulter wagte, erkannte sie die stechend roten Augen ihrer Verfolgerin. Das genügte, damit sie um ihr Leben fürchtete.
Nellie wusste, wer hinter ihr war und dass es bedeutete, dass sie sich in einem Traum befand. Dieses Wissen gab ihr jedoch keine Sicherheit. In dieser Welt war ihr Leben genauso in Gefahr wie in der realen.
„Nancy…“, wimmerte Nellie verzweifelt nach ihrer Rettung und hoffte, dass ihr schlafender Körper diesen Hilferuf aussenden würde, damit ihre Schwester sie wecken konnte.
Doch selbst nach endlos langen Sekunden, in denen ihre Lunge zu schmerzen begann, tat sich nichts. Jede Nacht, in der ein solcher Albtraum sie heimsuchte, fürchtete Nellie, es könnte ihr letzter sein. So auch jetzt.
Ihre magischen Kräfte hatten sich schon immer gegen sie gerichtet und je stärker sie wurden, desto mehr fürchtete das blonde Mädchen sich vor ihnen. Dies wiederum verstärkte sie weiter und bildete dadurch einen verhängnisvollen Teufelskreis, aus dem sie kein Entkommen sah.
Erschöpft vom Rennen und fürchtend, dass ihre Beine endgültig nachgeben würden, blieb Nellie stehen und legte eine Hand auf ihre Brust, in der ihr Herz heftig mit der hektischen Atmung um die Wette schlug.
Mit einem unterdrückten Schluchzen drehte sie ihren Kopf, in der verzweifelten Hoffnung, ihr möge sich ein Ausweg aufzeigen. Stattdessen hörte sie die melodische Stimme, die mit trügerischer Sanftheit ihren Namen nannte, was ihr ein weiteres Wimmern entlockte. Es gab eine Zeit, da hat sie diesen Klang als beruhigend und wohltuend empfunden. Doch seit sie wusste, was die Hexe wollte, löste er nur noch Grauen und Furcht aus.
„Bitte, lass mich aufwachen“, flehte Nellie mit zitternder Stimme und wagte es für einen kurzen Moment in Richtung der unheilvollen Augen zu sehen, die sie lauernd betrachteten.
Ein hinterhältiges Schmunzeln zeigte ihr, dass ihre Bitte nicht erhört wurde. Es schien, als würde sich das Schwarz hinter den roten Punkten verändern, jedoch nicht zum Positiven. Im Gegenteil gaben die dunklen Schwingen, die aus puren Schatten zu bestehen schienen, der Gestalt einen noch furchterregenderen Anblick.
Seit wann besaß die Hexe Flügel? In all den Jahren hat Nellie diese nie an der Schreckensgestalt bemerkt. Ob ihr Äußeres sich veränderte, wann immer sie stärker wurde? Das war eine besorgniserregende Vermutung.
Plötzlich erhellte sich die Dunkelheit neben ihr in einem Inferno aus ungezügelten Flammen, die den geschwächten Körper hungrig verschlingen wollten. Geistesgegenwärtig sprang Nellie zur Seite und stieß einen schrillen Schrei aus, während die Hitze sie überrollte. Wie ein aufgeschrecktes Reh begann sie wieder zu laufen, weit weg von dem Feuer zu kommen, das sie glücklicherweise nicht verfolgte. Doch es sollte weiterer Schrecken auf sie warten.
Ein Windstoß erfasste sie, nur kurz bevor eine Welle aus tiefschwarzem Wasser sie gegen eine unsichtbare Wand drückte und ihr die Luft zum Atmen raubte.
Ein hoher Ton erklang so laut, sodass sie ihre Hände schützend auf die schmerzenden Ohren presste. Dies sorgte dafür, dass ihre Schritte sie nur noch taumelnd trugen und sie sich nicht dagegen wehren konnte, als sich etwas um ihr Fußgelenk schlang und ihr jeglichen Halt raubte.
Ein klagender Laut verließ ihre Lippen, als Nellie auf dem harten Untergrund aufkam, aber wurde nur kurz darauf zu einem lauten Schmerzensschrei. Etwas hatte ihren Oberarm gestreift und drei blutende Schnitte auf der weichen Haut hinterlassen. Was geschah nur? Das war der schlimmste Albtraum, den sie jemals hatte und er verstärkte die Befürchtung, dass die Hexe dieses Mal gewinnen könnte.
Doch noch war das Mädchen nicht bereit zu sterben, schließlich gab es nach all den Jahren endlich einen Hoffnungsschimmer, an den sie sich klammerte. Deswegen biss Nellie fest die Zähne zusammen und versuchte die Schmerzen zu ignorieren, die sich hartnäckig in ihrem Körper ausbreiteten.
‚Hilf mir‘, flehte sie die Stimme in ihrem Kopf an, die der Ursprung ihrer Fähigkeiten war.
Wenn Nellie sie schon nicht zu kontrollieren wusste, dann musste es die Stimme können. Anders als die Horrorgestalten hat diese sich nie gegen das Mädchen gerichtet. Aber war eine Rettung überhaupt möglich, wenn ihr Ursprung der gleiche war?
Eine Antwort darauf sollte sie nicht bekommen, aber ihr Flehen wurde dennoch erhört. Gerade als sie einen alarmierenden Blick über die Schulter riskierte, sah sie in ihrem Augenwinkel ein Licht erscheinen. Furchtsam, da sie eine weitere Gefahr erwartete, schnellten ihre Augen nach vorne, weiteten sich dann vor Staunen. Das intensive Grün ihrer Iriden begann zu leuchten, als sie erkannte, was der Ausweg aus der Finsternis war.
Ein wunderschöner Garten breitete sich vor dem erschöpften Mädchen aus, der neben den mannshohen Hecken noch allerlei farbenfrohe Blumen beherbergte. Dahinter wuchsen drei Gebäude empor, die sie bisher nur auf Bildern gesehen hat, jedoch sofort erkannte. Schon lange verspürte sie das drängende Bedürfnis zu diesem Ort zu reisen, um dort Antworten auf ihre unzähligen Fragen zu bekommen. Ihn nun auch in ihrem Traum zu sehen, fühlte sich wie ein gutes Omen an.
„Nellie!“
Mit einem schwachen Kopfschütteln wollte sie die vertraute Stimme von sich schieben. Endlich war sie in Sicherheit, das konnte sie jetzt nicht aufgeben.
Wie hypnotisiert trat die Blonde mehrere kleine Schritte auf den Garten zu. Sie wollte zu dem größten Gebäude gelangen, das eine besondere Anziehungskraft auf sie ausübte.
„Wach endlich auf, Nellie!“
Erneut die besorgte Stimme, wegen der das Mädchen kurz innehielt und blinzelte. „Nancy?“
Bevor sie jedoch nach ihrer Schwester suchen konnte, ging ein Ruck durch ihren Körper und der Boden öffnete sich unter ihren Füßen. Ein erschrockener Schrei folgte dem freien Fall, den sie zu verhindern versuchte, indem sie ihre Arme nach den Hecken ausstreckte. Doch anstatt sie zu retten, entfernten sie sich nur von ihr.
„Beruhig dich doch, ich bin es.“
Keuchend riss Nellie ihre Lider auf und blickte auf die vertraute Zimmerdecke, auf die ihr Vater vor vielen Jahren unzählige kleine Sterne geklebt hat, die ihr sachte entgegen leuchteten. Durch den sanften Druck an ihren Handgelenken merkte sie, dass ihre Arme ausgestreckt waren, als wollten sie nach etwas greifen, aber stattdessen hätten sie beinahe ihre Schwester erwischt.
Читать дальше