Wolf kam von seinem Treffen mit Sommer nach Hause und konnte schon im Flur lautstarkes Werken in seiner Küche vernehmen. Offenbar hatte sie alles vorbereitet, gewartet, bis sie das Garagentor hörte und gerade eben begonnen die Zutaten in die Pfanne zu geben, denn es zischte regelrecht und als er eintrat, war Julia voll konzentriert zugange. Sie hatte grünen Spargel und Frühlingszwiebel blanchiert und briet das Gemüse nun in der Pfanne scharf an. Nach wenigen Minuten kippte sie den Inhalt in eine Schüssel und gab die vorbereiteten Jakobsmuscheln in die Pfanne und würzte kräftig mit verschiedenen Kräutern. „Ist gleich fertig“, rief sie, ohne ihn anzusehen. Er trat neben sie und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Er wollte sie nicht stören. Sie trug ein enges T-Shirt, einen sehr kurzen Rock, schwarze Strümpfe und Doc Martens. An ihr sah das Outfit scharf und keineswegs billig aus. Sie war groß, schlank und hatte eine sehr sportliche Figur. Er schüttelte nur den Kopf und fragte sich, in welcher Kleidung sie wohl nicht attraktiv aussehen würde. Ihm fiel keine ein.
Der Tisch war liebevoll gedeckt. Silberbesteck, Stoffservietten, Wein- und Wassergläser und eine einzelne rote Rose in einer schmalen, sehr dezenten Vase. Er nahm eine Flasche Sancerre aus dem Weinkühlschrank und während er ihnen einschenkte, servierte sie die beiden Teller. Sie setzten sich gemeinsam und als sie ihr Glas hob, sah sie ihn strahlend mit ihren großen dunklen Augen an. „Na mein böser Wolf, hast du denen da draußen gezeigt, wer der Stärkste ist?“ Er fletschte die Zähne und knurrte. Sie prusteten beide los und hätten dabei fast ihren Wein verschüttet. Sie hatte die Gabe, ihn zum Lachen zu bringen, egal, wie mies sein Tag war, oder wie mies die Leute waren, mit denen er Geschäfte machte. Sie lachte aus tiefstem Herzen, und dennoch wussten sie beide, dass es nur eine Ablenkung war, von dem, was später noch kommen würde. Trotzdem liebte er ihr Lachen. Sie war nicht nur hübsch, sondern auch sehr intelligent und für ihre neunzehn Jahre unglaublich weise. Während des Essens unterhielten sie sich über den neuen Joker im Kino mit Joaquin Phoenix und er musste ihr versprechen, ihn noch diesen Monat mit ihr anzusehen. Sie studierte Kunstgeschichte und berichtete über das gerade beendete Semester an der Uni, über ihre Freundin Hanna, nur nicht über ihn. Das Essen war vorzüglich, wovon er immer wieder zwischendurch schwärmte, während sie wie aufgedreht erzählte.
Als sie alles in der Küche versorgt hatten, ging er zum Kamin, schob die Glasscheibe hoch und legte zwei Scheit Buchenholz nach. Es war zwar mitten im Sommer, aber abends wurde es in dem geräumigen Loft an kühleren Tagen doch manchmal etwas frischer. Er setzte sich auf die Couch, sie schenkte ihnen nochmals Wein nach, stellte die Gläser auf dem Tisch ab und setzte sich im Schneidersitz direkt neben ihn. Wolf wusste, sie würden heute nicht viel Schlaf bekommen. Dann schmiegte sie ihren Kopf an seine Schulter und schloss die Augen. Tränen rannen an ihren Wangen herab. Sie weinte lautlos. Jetzt war sie so weit.
Konnte es sein, dass Wolf in diesem Augenblick einen Anflug von Glück verspürte?
Julia war die Tochter von Wolfs Exfrau. Ihre Ehe hielt nur vier Jahre. Er war damals mehr im Flugzeug als zu Hause. Seine Einsätze waren über den ganzen Globus verstreut, und er durfte ihr natürlich nie von seinen Aufträgen berichten. Das war ihr zwar schon vor der Ehe klar, und sie glaubte damit zu Recht zu kommen. Aber es war eben nicht so. Auch er kam nicht damit zurecht und er wünschte, er hätte sich von seinem Beruf getrennt und nicht von ihr. Die Trennung von der damals erst zwölf Jahre alten Julia fiel ihm fast schwerer als die Trennung von ihrer Mutter. Obwohl sie nicht seine eigene Tochter war, und er nur vier Jahre bei den beiden gewohnt hatte, war sie ihm so ans Herz gewachsen wie kein anderer Mensch. Er konnte sich nicht erklären, warum sie eine solch enge Bindung aufgebaut hatten. Zumal er in diesen vier Jahren ohnehin dauernd unterwegs war.
Nach der Scheidung hielten sie den Kontakt zwar aufrecht, aber er war eben sehr selten hier. Er wusste, Julia kam oft nur dann zu ihm, wenn es ihr schlecht ging und Kummer hatte, oder einfach nur Streit mit ihrer Mutter hatte. Als pubertierende Sechzehnjährige vertraute sie ihm einfach alles an, und er konnte sich absolut nicht erklären warum. Vor allem aber war er mit dieser Art von Problemen vollkommen überfordert, auch wenn es sein Beruf war, Probleme zu lösen. Probleme der nationalen Sicherheit, Verhandlungen mit Rebellen oder mit Erpressern von Konzernen, das war sein Geschäft. Damit kannte er sich aus. Er wusste, wie man Aufstände gegen Regime organisierte, die seinen Auftraggebern nicht genehm waren. Er hatte von Piraten besetzte Öltanker ausgelöst. Er wurde gerufen, wenn es heikel und gefährlich war. Und nicht selten musste er unzählige Gesetze übertreten, um zu erreichen, wofür er gesandt wurde. Meist waren seine Missionen diplomatischer Natur und er schreckte auch nicht davor zurück, das Kommando für Sondereinheiten zu übernehmen, um seine Aufgaben brutal zu erledigen, aber die Launen eines pubertierenden Teenagers waren definitiv nicht sein Metier. Trotzdem kam sie zu ihm. Und noch Jahre später tat sie das. Auch heute war sie wieder bei ihm. Die Tatsache, dass Julia litt, zerriss ihm das Herz. Jede Träne war schlimmer als jeder Faustschlag, den er in seinem Leben einstecken musste. Jedes Aufschluchzen war wie eine Schusswunde. Dennoch war er glücklich, dass sie damit zu ihm kam.
Endlich fing sie an zu erzählen. Sie hatte mit Moritz Schluss gemacht. Die beiden hatten sich vor gut zwei Jahren auf der Uni kennengelernt und waren seitdem unzertrennlich. Wolf mochte Moritz, hatte aber geahnt, dass das früher oder später passieren würde. Er wurde ein paar Mal von ihnen in Julias Studentenbude, die sie mit ihrer Freundin Hanna teilte, bekocht. Es waren immer lange, sehr amüsante Abende. Moritz war sehr intelligent und hatte einen guten Humor. Er tat ihm leid. Und das war auch Julias Problem. Sie erzählte, wie sie versucht hatte es ihm beizubringen und wie schlecht sie sich jetzt fühlte. Wie Wolf erwartet hatte, redeten sie die halbe Nacht. Vielmehr, sie redete die halbe Nacht. Er wunderte sich, warum sie mit diesen Dingen zu ihm kam und das nicht mit ihrer Freundin Hanna besprach. Genoss aber dieses Vertrauen und diese Nähe von Julia. Es war, als ob an solchen intensiven Abenden wie heute, die vielen Tage, Wochen und manchmal Monate, die sie sich nicht sahen, die Zeit in komprimierter Form nachgeholt wurde. Eine Tilgung der schuldig gebliebenen Zeit des fortgegangenen Vaters. Julia konnte das offenbar emotional von ihm abrufen, wenn sie es brauchte. Vorausgesetzt, er war nicht wieder irgendwo im Einsatz.
Sein Beruf war nicht nur für ihn gefährlich. Er brachte jeden, der ihm nahestand, in Gefahr. Damit versuchte er sich die Trennung von Julias Mutter vor sieben Jahren vor sich selbst zu rechtfertigen. Solange er ungebunden war, war er weniger angreifbar, weniger verletzlich. Die Tatsache, dass sie die Vater-Tochter-Beziehung bis heute so intensiv pflegten, brachte Julia weiterhin in Gefahr. Daher nahm Wolf keine Regierungs- oder Militäraufträge mehr an. In dem Geschäft, das er betrieb, legte man sich zu oft mit den falschen Leuten an, und man musste verdammt auf der Hut sein, dass man nicht unter die Räder der Mächtigen kam.
Trotz der langen Nacht ging Ferdinand Wolf am nächsten Morgen um sieben Uhr joggen. Er lief vom Bootshaus am Sieber Areal vorbei, die Seepromenade entlang und dann die zirka zwei Kilometer bis zum Seepark. Dort drehte er ein paar Runden, machte Liegestütze und rannte wieder zurück. Er dachte über sein gestriges Treffen mit Sommer nach.
Ralf Sommer hatte Wolf ein Treffen in einer Penthouse Suite im Park Hyatt vorgeschlagen. Beide konnten mit dem Wagen in die Tiefgarage fahren und mit dem Lift direkt in die Suite gelangen, ohne dass sie gemeinsam gesehen wurden. In der Tiefgarage bemerkte Wolf zwei Bodyguards in einem dunklen Audi A8, der rückwärts eingeparkt schräg gegenüber der Ausgangstür zu den beiden Aufzügen stand. Selbst von außen sah man den beiden ihre sportliche, muskulöse Statur an.
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