Meine Gedanken driften so weit ab, dass ich kaum bemerke, wie aus dem lockeren Schneefall ein heftiger Blizzard geworden ist. Du meine Güte! Der Park ist inzwischen komplett in einem Schneemantel eingehüllt. Wäre der frostige Wind nicht, könnte ich diesen Anblick sogar genießen. So beschließe ich aber, dass es höchste Zeit wird, nach Hause zu gehen, bevor der Sturm schlimmer wird. Außerdem werden sich Henry und sein Herrchen bei diesem Wetter sicher kaum hierher verirren.
»Komm, Stella! Lass uns in die warme Wohnung zurückgehen.«
Der Wind schlägt mir zusammen mit unendlich vielen Eiskristallen ins Gesicht und meine Hände sind bereits taub, denn meine Handschuhe liegen noch immer zu Hause. Auf dem Weg rechts von mir kämpft ein Obdachloser damit, seinen Einkaufswagen, der mit all seinen Habseligkeiten gefüllt ist, durch den Schnee zu schieben. Er tut mir leid und ich hoffe inständig, dass er einen Unterschlupf hat, in dem er sich vor dem Schneesturm schützen kann. Zum Glück hat die Stadt ausreichend Anlaufstellen für obdachlose Menschen, wo sie eine warme Mahlzeit und einen trockenen Platz zum Schlafen bekommen können. Die Vorstellung, dass dieser arme Mensch bei diesem Wetter allein hier draußen herumirrt und noch dazu an Weihnachten, bricht mir beinahe das Herz. Ob ich ihn ansprechen und fragen soll, ob er Hilfe benötigt?
Ich fasse mir ein Herz, biege auf den Weg ein und gehe zögerlich auf ihn zu, während er fluchend versucht, den Einkaufswagen aus einer Schneewehe zu wuchten. Als ich keine zwei Meter mehr von ihm entfernt bin, kippt plötzlich der Wagen zur Seite und der Inhalt verteilt sich scheppernd auf dem Weg. Dann geht alles furchtbar schnell. Stella zu Tode verängstigt, befreit sich panisch aus ihrem Halsband und rennt blindlings in das dichte Schneegestöber hinein. Hysterisch rufe ich ihr hinterher und renne in die Richtung, in die sie verschwunden ist. Hinter mir höre ich den Obdachlosen weiter vor sich hin fluchen und meine, auch wüste Beschimpfungen gegen mich herauszuhören. Undankbarer Flegel , denke ich mir, schenke ihm jedoch keine weitere Beachtung. Ich muss Stella finden, und zwar schnell. Sie ist doch noch so klein und diesem unschönen Wetter hilflos ausgesetzt. Mein Magen verkrampft sich schmerzhaft und ich kämpfe tapfer gegen die Tränen an. Wie besessen renne ich durch den Park, halb blind, meine Beine schmerzen, meine Lunge brennt, aber von meiner Hündin ist keine Spur zu sehen.
»Stella!« Meine Stimme überschlägt sich, kommt kaum gegen den Schneesturm an. Blindlings renne ich weiter, spüre meine Füße kaum noch und schaue in jedes Gebüsch. Mit jeder Minute wächst meine Verzweiflung und meine Kräfte schwinden immer mehr. Aber ich bin nicht bereit, diesen Park ohne meinen Hund zu verlassen. Sie muss einfach hier irgendwo in der Nähe sein. Wie von einer unsichtbaren Macht getrieben kämpfe ich mich weiter durch das Schneegestöber. Viel sehen kann ich nicht mehr und das Einzige, was ich noch höre, ist der pfeifende Wind und mein rasselnder Atem.
»Um Himmels willen, was machen Sie denn bei diesem Sturm hier?«, höre ich plötzlich eine Stimme hinter mir rufen. Erschrocken wirbele ich herum und erkenne, dass ich mich am Rand des Parks befinde. Ein Streifenwagen hat angehalten und der Cop schaut mich durch das heruntergelassene Seitenfenster an.
»Ich ... Mein Hund ...«, stammele ich atemlos.
»Was ist mit Ihrem Hund?« Der Cop steigt aus, geht um den Streifenwagen herum und kommt auf mich zu.
»Er hat sich ... sie ist mir entwischt«, antworte ich mit zittriger Stimme und streiche mir erschöpft eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Jetzt steigen Sie erst mal ein und erzählen mir in Ruhe, was passiert ist.« Vorsichtig legt der Polizist eine Hand auf meine Schulter und versucht mich in Richtung seines Wagens zu schieben. Doch ich halte dagegen.
»Nein! Ich muss weitersuchen.«
»Ms. ...?«
»McBride«, lasse ich ihn schniefend wissen.
»Ms. McBride, Sie können unmöglich weiter hier draußen herumlaufen. Der Schneesturm soll sogar noch schlimmer werden. Bitte, steigen Sie ein.«
Während ich fortwährend den Kopf schüttele, lasse ich mich dennoch von ihm zum Streifenwagen führen und steige wie in Trance ein. Erst jetzt wird mir bewusst, wie erschöpft ich eigentlich bin.
»Soll ich Sie nach Hause fahren oder möchten Sie in ein Krankenhaus?«
»Nach Hause, bitte«, antworte ich kraftlos und gebe ihm noch meine Adresse.
Müde und durchgefroren wie ein Eiszapfen sperre ich meine Wohnungstür auf. Doch auch hier drin empfängt mich nichts als Kälte. Alles, was in der letzten Stunde passiert ist, erscheint mir irreal. Der Gedanke an Stella lässt mein Herz vor Schmerzen beinahe zerspringen. Wie konnte das nur passieren? Kraftlos lasse ich mich auf meine ausladende Couch sinken, wo ich erschöpft nach der Decke greife und sie über meinen schlotternden Körper ziehe. Wie schön wäre es, wenn ich jetzt in einen tiefen, erholsamen Schlaf fallen würde und wenn ich aufwache, würde sich alles nur als ein böser Traum herausstellen. Doch so müde ich auch bin, der erlösende Schlaf will nicht kommen.
Sobald ich meine Arme und Beine wieder spüren kann, stehe ich deshalb wieder auf und fahre meinen Laptop hoch. Da ich sowieso nicht schlafen kann, möchte ich die Zeit nutzen, Suchzettel zu gestalten und auszudrucken. Ich kann und will die Hoffnung nicht aufgeben. Schließlich ist Weihnachten. Ist das nicht auch das Fest der Wunder und der Liebe? Ich lache bitter auf, während ich mir eine Tasse Kaffee koche. Von wegen Wunder und Liebe. Das Wunder der Liebe hat sich schon vor einiger Zeit aus dem Staub gemacht, gemeinsam mit einer anderen. Obwohl es schon über ein Jahr her ist, schmecke ich noch immer den bitteren Beigeschmack dieser Demütigung. Mit einem energischen Kopfschütteln schiebe ich die Gedanken beiseite, denn in diesem Moment zählt nur Stella. Nachdem ich auf meinem Smartphone nach einem passenden Foto gesucht habe, schicke ich es an meinen Laptop, um es in den Flyer einbauen und ausdrucken zu können.
Irgendwann hat mich dann doch die Müdigkeit übermannt und ich bin auf dem Sofa eingeschlafen. Nach ein paar Stunden unruhigem Schlaf bin ich mit höllischen Kopfschmerzen wieder aufgewacht und die Erinnerung an Stellas Verschwinden hat mir einen stahlharten Schlag in die Magengrube verpasst.
Nachdem ich mich endlich geduscht und umgezogen habe, spüle ich noch schnell eine Excedrin herunter und stelle das leere Glas achtlos in die Spüle. In Gedanken bin ich schon wieder im Central Park und verteile die Flugzettel mit Stellas Foto darauf. Im Vorbeigehen ziehe ich mir meinen Mantel über, greife den Stapel Flugblätter und verlasse beinahe fluchtartig die Wohnung. Erst als ich atemlos auf die Straße trete, bemerke ich, dass ich schon wieder meine Handschuhe vergessen habe. Ich dachte immer, aus Schaden wird man klug? Das trifft wohl auf mich nicht zu.
Da der Schneesturm sich gelegt hat und nur noch kleine Flocken durch die Luft schweben, verzichte ich darauf, noch mal die zwei Etagen nach oben zu steigen, und mache mich direkt auf den Weg in den Park.
An einem normalen Wintertag hätte ich diesen atemberaubenden Anblick sehr genossen. Aber heute ist absolut nichts normal und das schreckliche Bild meines womöglich erfrorenen Hundes, das sich jäh vor mein inneres Auge schiebt, lässt mir die Tränen in die Augen schießen. Ich sehe nichts von der Schönheit dieser Winter-Wunderlandschaft, bemerke nicht, wie verzaubert der Park in der Sonne glitzert. Mein Fokus ist auf die Zettel in meiner Hand gerichtet, die ich in einem großen Radius rund um die Stelle, an der gestern mein Hund weggelaufen ist, aufhänge und meine einzige Motivation, mit dieser sinnlosen Tätigkeit weiterzumachen, ist die schwache Hoffnung, dass Stella irgendwo Unterschlupf gefunden hat.
Читать дальше