Vorsichtig schlich Tom weiter, mit dem Schwert mal hierhin, mal dorthin leuchtend. Vor ihm auf dem Boden konnte er einen großen Umriss ausmachen. Für einen Moment glaubte er, es handle sich um einen aufgerollten Teppich, doch dafür erschien ihm der Gegenstand zu groß. Er hielt die Luft an. Es war ein Körper!
»Mist«, flüsterte er kaum hörbar. Vorsichtig, ganz vorsichtig, näherte er sich. Der Manie Fowlers entsprechend war die Gestalt am Boden in schwarze Gewänder gehüllt und an Armen und Beinen gefesselt. War es sein jüngstes Opfer? Veyron hatte ihn ja ständig per Nachrichten gewarnt. Kam Tom zu spät?
Er näherte sich und untersuchte die bedauernswerte Person. Trotz der Dunkelheit war sie unschwer als stark übergewichtig auszumachen, die Finger plump und … sie hatte einen Bart.
Tom stutzte.
Hinter ihm erklang ein leises Klick . Licht ergoss sich über den Raum. Im gleichen Augenblick machte Toms Herz einen Satz. Er war voll in die Falle getappt!
»Ich habe dich schon erwartet«, meldete sich eine neue Stimme, erfüllt von boshafter Zufriedenheit, die eigene Schläue bewundernd und die Dummheit Tom Packards verhöhnend.
Langsam drehte sich Tom um – und sein Herz machte einen weiteren Satz.
Es war nicht der Sicherheitsbolzen einer Waffe, was da geklickt hatte, sondern der Schalter einer kleinen Nachttischlampe. Von deren Schein spärlich beleuchtet blickte Veyron Swift seinem Patensohn sichtlich entspannt ins Gesicht. Hochgewachsen und hager, das markante, scharf geschnittene Gesicht von schwarzem Haar umkränzt, lümmelte Veyron auf der pechschwarzen Couch dieses Irren. Der Mann zu seinen Füßen musste demnach Henry Fowler sein, gefesselt und geknebelt; obendrein bewusstlos.
Tom sprang auf und steckte das Daring-Schwert in den Gürtel, wo es sich augenblicklich in Luft auflöste. Die Gefahr war vorüber, vorerst wurde es nicht mehr gebraucht.
Mit einem unverschämten Grinsen im Gesicht saß sein Pate vor ihm. Tom wusste erst nicht, was er sagen sollte, und dann sprudelten die Fragen nur so aus ihm heraus: »Wie lange sind Sie schon hier? Wo waren Sie die ganze Zeit? Wie kamen Sie hier überhaupt rein? Wo ist das Opfer? Was ist mir ihr passiert?« Er war sich nicht sicher, ob er erleichtert oder wütend sein sollte. Zu erstaunlich kam ihm Veyrons plötzliche Anwesenheit vor.
»Tom?«, hörte er Janes Stimme vom Fenster aus.
Er lehnte sich hinaus. Gegen das Zwielicht des frühen Morgens sah er den Kopf der Polizistin, die zu ihm hinaufsah.
»Kommen Sie herein, Willkins. Es besteht keinerlei Gefahr«, rief ihr Veyron zu.
Tom hörte Jane einen derben Fluch ausstoßen. Ächzend stieg sie durch das Fenster.
»Gregson immer mit seinen verdammten Räuberleitern. Ich hasse diese Stunts«, murrte sie, dann kam zu ihnen. Jane bückte sich, um den gefesselten Fowler zu untersuchen. Mit einem Seufzen steckte sie die Pistole weg und starrte Veyron entgeistert an.
»Die Geheimtür, Willkins«, antwortete er auf die nicht gestellte, aber offensichtliche Frage. »Henry Fowler hat eine Geheimtür gebaut, die er geschickt getarnt hat. Von außen glaubt man tatsächlich, er hätte alle Türen des Stockwerks zugemauert. Alles sauber verputzt. Die grüne Wandfarbe verbirgt geschickt alle Unregelmäßigkeiten. Allerdings sind mir Schleifspuren am Boden aufgefallen, zwei sehr schmale, geschwungene Kratzer, verursacht durch das Öffnen der Geheimtür.« Veyron stutzte einen Moment, dann warf er Jane ein schulmeisterliches Lächeln zu. »Ich bin überzeugt, sie wären Ihnen selbst noch aufgefallen, Willkins. Wie dem auch sei: Nachdem ich also sicher war, dass Fowler unser Serienmörder ist, bin ich hier eingebrochen und musste nur noch warten, bis er mit seiner Beute zurückkehrte. Übrigens: Sein Opfer, Miss Anita Henderson, liegt drüben im Schlafzimmer. Er hat sie betäubt, aber sie befindet sich außer Lebensgefahr.«
»Eine Geheimtür? Teufel noch eins! Und wir haben das nicht bemerkt«, mischte sich nun Inspektor Gregsons Stimme ein. Der Mann selbst stieg gerade durch das Fenster und sah sich für einen Moment angewidert um. »Alles schwarz, wie? Ein echter Psycho«, meinte er.
Veyron stimmte ihm sofort zu. »Obendrein gerissen, aber nicht gerissen genug. Er hat die Klingeln des fünften Stocks mit den Familiennamen seiner Opfer beschriftet. Ziemlich zynisch. Allerdings hat er vergessen, dies auf der Briefkastenanlage zu wiederholen. Es war ein Leichtes, sein Versteck ausfindig zu machen und hier einzudringen. Er leistete zwar ein wenig Widerstand, aber im Handumdrehen hatte ich ihn unter Kontrolle. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass er einige hervorragende Ideen ersann, sich jedoch als unfähig erwies, sie in gleichem Maße meisterhaft umzusetzen. So, mein lieber Inspektor: Hier haben Sie Londons meistgesuchten Serienmörder. Herzlichen Glückwunsch«, sagte er, schnellte einer Sprungfeder gleich in die Höhe und wandte sich in Richtung Ausgang.
»Moment«, rief ihm Tom hinterher. »Sie haben uns immer noch nicht gesagt, wie lange Sie hier schon rumsitzen. Was soll das heißen, Sie haben diesem Kerl aufgelauert?«
»Nun, ich wache hier schon seit einer Stunde und vierundfünfzig Minuten, falls du es genau wissen willst«, antwortete Veyron.
Gregson und Jane sackten die Kinnladen runter, Tom ballte die Fäuste. »Und die ganzen Nachrichten?«
»Etwas Motivation zu mehr Eile. Ich wollte hier nicht bis Sonnenaufgang auf euch warten.«
Jane stieß ein Lachen aus. »Heißt das, es bestand niemals Lebensgefahr?«
»Zumindest nicht mehr, nachdem ich Fowler ausgeschaltet hatte«, gab Veyron zurück.
Ungehalten verschränkte Jane die Arme, Gregson schüttelte den Kopf. Tom musste sich anstrengen, nicht irgendwas Beleidigendes von sich zu geben.
»Sie sind doch verrückt! Wir haben uns fast in die Hosen gemacht«, platzte es aus Jane heraus.
Mit einem gleichgültigen Schulterzucken nahm es Veyron zur Kenntnis. »Verrückt? Vielleicht, effizient ganz sicher – zum Glück für uns alle«, erwiderte er süffisant. Vom Wohnzimmertisch nahm er ein kleines, schwarzes Buch zur Hand und warf es Gregson zu, der es überrascht auffing.
»Das Schwarze Manifest«, las er vom Einband. »Was ist das?«
»Henry Fowlers Motiv, mein guter Inspektor. Es ist das wohl übelste Pamphlet dunkler Philosophie, das ich je gesehen habe. Eine Verherrlichung des Dunklen Meisters, des größten Tyrannen Elderwelts. Soweit ich es herauslesen konnte, verspricht der Glaube an den Dunklen Meister Unsterblichkeit, wenn man bereit ist, in seinem Namen Opfer zu bringen. Menschenopfer natürlich, und zwar nach streng festgelegten Ritualen. Sie werden feststellen, dass sie eins zu eins dem Vorgehen Fowlers entsprechen: Zuerst die Opfer strangulieren, dann den nackten Körper mit dunklen Schriftzeichen bepinseln. Die Übersetzungen werden Ihnen verraten, dass es sich um Fowlers geheime Wünsche handelt, deren Erfüllung er sich vom Dunklen Meister erhoffte. Auch die Drapierung der Opfer wird in diesem Buch festgeschrieben. Nackt und mit dem Gesicht nach oben bei Vollmond und mit dem Gesicht nach unten bei Neumond. Der nächste Vollmond ist morgen. Wir haben Fowler also gerade noch rechtzeitig gestoppt. Glücklicherweise, denn Henry Fowler, Inspektor, war ein hundertprozentiger Gefolgsmann des Dunklen Meisters – und das in unserer Welt. Diese Tatsache sollte uns große Sorgen bereiten«, erklärte Veyron. Er trat zur Wand und drückte eine bestimmte Stelle. Wie von Geisterhand schwang ein ganzes Stück der Mauer nach außen und offenbarte den Blick in den Flur des fünften Stocks. Draußen wirbelten zwei uniformierte Constables herum, die Veyron verdutzt anstarrten. Er winkte ihnen kurz zu.
»Wo wollen Sie denn jetzt hin?«, fragte Tom erstaunt. Das kann doch alles nicht wirklich wahr sein! Sie mussten sich um die bewusstlose Frau kümmern, und bestimmt gab es noch ein paar Zeugen in der Nachbarschaft aufzuspüren.
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