»Das ist weise«, sagt der Mann mit scharfer und befehlsgewohnter Stimme. Sie duldet keinerlei Widerspruch. »Die zwei Wochen im Analysetank haben deinen Kreislauf auf ein Minimum heruntergefahren.«
»Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?«
Langsam schaffe ich es, die Kontrolle über meine Beine zurückzugewinnen. Ich drücke mich hoch und schwanke wie der Glöckner von Notre-Dame meinem Besucher entgegen. Dieser bleibt regungslos.
»Hallo? Ich rede mit Ihnen.«
»Halt den Mund, Thomas!« Der Mann dreht sich um, und ich blicke in die Augen meines Vaters.
Mein Herz setzt aus. Das kann nicht sein. Mein Vater ist tot. Er wurde ermordet, kurz vor meiner Geburt. Ich zittere, suche Halt am Rand der Liege.
Der Mann ähnelt meinem Vater, wie ich ihn auf Mutters Fotos in Erinnerung habe: zwar knappe fünfundzwanzig Jahre älter, aber das gleiche kantige Gesicht und die graugrünen Augen.
»Wer sind Sie?«, flüstere ich haltlos.
Meine Beine geben nach, ich stolpere und falle durch ihn hindurch. Eine Sinnestäuschung?
Mein Gott, wie oft habe ich das Grab meines Vaters in Arlington besucht? Wie oft habe ich bitterlich geweint, meinen Schmerz in den Himmel geschrien? Nein, mein Vater ist tot. Und die Erscheinung ein neuer Schachzug Ny'Chelles um mich weichzukochen.
Das look-a-like meines Vaters schaut kalt auf mich herab.
»Ich bin dein Vater, aber das ändert nichts an deiner Situation. Du bist ein ungebetener Gast, ein Relikt, das es zu beseitigen gilt.«
»Ny'Chelle?«, schreie ich ins Leere. »Hören Sie auf! Der Mann ist nicht mein Vater! Meine Mutter hat Kyle geliebt. Dieser Kyle könnte und würde niemals seinen eigenen Sohn töten lassen.«.
Die Projektion meines Vaters flimmert und erlischt. Ein Schott öffnet sich. Ny'Chelle tritt ein, wirkt fassungslos.
»Habe ich das richtig verstanden? Er will dich beseitigen lassen?«
»Wollten Sie das nicht?«, frage ich verstört und rappele mich hoch. »Davon abgesehen, haben Sie mir nicht genug Schmerzen bereitet? Können Sie nicht wenigstens meine Eltern aus dem Spiel lassen?«
»Sein Codename ist Merlin. Er ist seit 1978 der Oberbefehlshaber des Sonnensystems, präsidialer Senator und unser zweiter Erdprotektor. Ich spiele nicht mit dir. Merlin ist Kyle Steward Francis Jennings. Dein Vater.«
»Sie können mich gerne weiter foltern. Aber das war nicht der Mann, von dem meine Mutter schwärmte, seinetwegen in den Tod ging.«
Ich kämpfe mit meinen Gefühlen. Tränen benetzen meine Augenwinkel, meine Sicht verschwimmt. Mit einem Seufzer sacke ich auf die Liege zurück und vergrabe das Gesicht in den Händen. Gibt es nach Katee eine weitere Wahrheit, die ich nicht kenne? Hat Mutter mehr gewusst und daher den Tod gesucht? Wenn ja, werde ich nicht eher ruhen, bis das ich ihren Tod eigenhändig gerächt habe.
Ny'Chelle setzt sich zu mir, schweigt. Ich blicke dem Todesengel fest in seine dunklen Augen.
»Worauf warten Sie noch? Sie hatten mir einen schmerzfreien Tod versprochen. Ich nehme Sie jetzt beim Wort: Sternenprinz.«
Ny'Chelles Oberlippe zuckt leicht. Mit jeder Minute, die verstreicht, wird Ny'Chelles Antlitz härter, männlicher. Es ist augenscheinlich, dass sie massive, gesundheitliche Probleme hat.
»Lass mich reden«, bittet Ny'Chelle und hilft mir hoch. Die unerwartete Konfrontation mit meinem Vater hat meine Angst vor Ny'Chelle und meine Wut über die erlittenen Qualen in Rauch aufgehen lassen. »Du wirst nicht getötet. Nicht, wenn ich es verhindern kann. Kyle erklärte uns, du wärest ein feindlicher Agent und darauf konditioniert, sich als Merlins Sohn auszugeben. Was gelogen ist, da der Debugger deine DNA eindeutig identifiziert hat.«
»Sie hieß Katee!«
»Meinetwegen. Wir haben nicht viel Zeit. Ich werde dich jetzt nach Thornton Heath zurückbringen lassen, allerdings unter einer Bedingung: Du musst mir versprechen, dass du niemals in die Nähe unserer Basis zurückkehren wirst. Hast du mich verstanden?«
Ich nicke stumm.
»Dann komm.«
»Einen Moment, bitte. Ist Philipp hier? Und was wird aus Katees Leichnam?«
»Katees Körper wird analysiert und anschließend eingeäschert. Was Philipp Becker angeht, einverstanden, holen wir ihn ab.«
Wir dürfen gehen. Einer von Fragen und Zweifeln geprägten Zukunft entgegen, gebunden an ein Versprechen. Ohne die geringste Chance, die Wahrheit zu erfahre. Wie ein Ferkel dem Metzger laufe ich Ny'Chelle schweigend hinterher. Durch ein Labyrinth namens Morgiana's Lair. Abrupt bleibe ich stehen, ich habe zu viele Fragen. »Ny'Chelle?«
»Schweig! Wenn wir uns jetzt nicht beeilen, ist dein Vater beileibe nicht der einzige, der nach deinem Leben trachten wird.«
»Wer noch? Ihre goldenen Roboter?«
Ny'Chelle blinzelt mit den Lidern. Mich schaudert bei dem Gedanken, wie sie am Ende ihrer laufenden Metamorphose aussehen wird. Sie schnappt meinen Arm, zerrt mich weiter, bis ein Schott sich öffnet und meine Flucht zu Ende ist.
»Hallo Ny'Chelle.«
Er versperrt meinen Weg in die Freiheit. Breitbeinig und die Arme militärisch hinter seinem Rücken verschränkt. Sein Blick ist kalt, enthält weniger Leben als der Taststrahl der Gladiatroniken. Für eine Sekunde kreuzen sich unsere Blicke, münden in gegenseitigem Erkennen. Es gibt für mich keinen Zweifel, vor mir steht Kyle Steward Francis Jennings, mein totgeglaubter Vater.
»Weißt du, Ny'Chelle, du hast mich enttäuscht. Ich habe Eichendorff prüfen lassen, ob du pflichtgemäß dem Vertrag von Helios zufolge in deiner Unterkunft mit deinem Erlöser zusammengetroffen bist. Stattdessen befreist du einen Gefangenen und bringst uns alle in Gefahr.«
»Kyle, du hast kein Recht, uns zu belügen und deinen Sohn zu liquidieren.«
»Halt mir keine Vorlesungen, Astartin.«
Purpurne Flammen lodern aus dem Boden empor und zwei Gladiatroniken samt Philipp im Gepäck treten vor uns aus dem Nichts. Philipp stolpert in Kyles Richtung. Dieser reicht ihm jovial die Hand.
»Philipp Becker? Schön, dass Sie zu unserer kleinen Party kommen konnten. Darf ich Ihnen meine Stellvertreterin verstellen? Ny'Chelle, die Ehrwürdige Astartentochter aus dem Stock der Ny.«
Philipp wirkt verstört, mustert Ny'Chelle und mich. Er versteht nicht, was hier gespielt wird. Und ehrlich gesagt, ich auch nicht.
Ny'Chelle krümmt sich vor Schmerzen und geht zu Boden.
»Geh!«, faucht sie und gibt mir einen Stoß. Gleichzeitig schubst Kyle Philipp in Richtung der von Krämpfen heimgesuchten Astartin. Wir gleiten aneinander vorbei, ohne uns zu berühren. Mein Freund stürzt und prallt gegen Ny'Chelle.
»Protektorschirm aktivieren«, befiehlt Kyle in ein unsichtbares Mikrofon, »transparent für Bild und Ton!«
»Kyle!«, kreischt Ny'Chelle. »Komm bitte zu dir! Philipp Becker ist kein Verbrecher, er verdient die Endurance nicht. Das kannst du uns nicht antun. Ruf die Gladiatroniken und lass mich sofort in mein Quartier bringen. Bevor es zu spät ist! Bitte!«
Ein letztes Zittern durchfließt Ny'Chelles Körper, das Raubtier gewinnt die Oberhand. Sie stößt sich vom Boden ab, wirbelt durch die Luft. Noch im Sprung fallen ihre letzten Federn ab, die nackten Flügelstümpfe schrumpeln zusammen. Die einst vollendete, weibliche Figur hat männliche Proportionen angenommen. Als sich die Kreatur auf dem Boden abrollt, hängen die Reste ihres Einteilers an ihrem Körper wie die Schale einer schlecht abgepellten Banane. Ny'Chelles Haut ist bräunlich verfärbt und geschuppt. Finger und Zehen haben sich in ihrer Länge verdreifacht und enden in sensenförmigen Krallen. Ihr Schädel gleicht einer deformierten Aubergine, deren Kiefer Zahnreihen entblößen, die den Weißen Hai zum Friedfisch degradieren. Philipp weiß nicht, wie ihm geschieht.
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