Vermutlich hatte sie tatsächlich keine Wahl. Wenn Simon mit Ben gemeinsame Sache machte und dies war offensichtlich der Fall, würde sie eines Tages auf ihn treffen müssen. Entweder er würde sie vor der Tanzschule abfangen, oder Simon würde ihn bei einem ihrer Treffen als freudige Überraschung präsentieren. Widerwillig musste sie sich eingestehen, dass sie sich auf die Verabredung zur Diskussion ihrer Meinung einlassen müsste.
„Ja.“, antwortete sie.
„Cool. Treffen wir uns beim Eiscafé Georgio?“
„Ok.“
Mit missmutigem Gesicht schloss sie das Chatfenster und ging offline. Sie konnte keine weiteren Gespräche mehr ertragen. Ein kleiner Funken von schlechtem Gewissen keimte in ihr allerdings auf. Immerhin hatte sie sich nicht einmal von ihm verabschiedet. Das war sehr unhöflich gewesen und eigentlich nicht ihre Art. Sie nahm sich einen weiteren Keks und biss schmollend hinein, bevor sie sich entschloss vom Fernseher berieseln zu lassen.
Das Eiscafé war an diesem Freitagnachmittag kaum besucht. Die Leute fuhren um diese Zeit in den Supermarkt, um ihre Wocheneinkäufe zu erledigen. Die Wenigsten schlenderten die Einkaufsgasse mit den kargen Geschäften entlang, um sich mit neuen Kleidungsstücken auszustatten. So konnte sich Mia ihren Lieblingstisch in der hintersten Ecke des Cafés sichern. Dort saß sie gerne, um bei einer Tasse Kakao ein Buch zu lesen oder selbst zu schreiben. Da sie keinen Laptop hatte, hatte sie immer ein Notizbuch dabei, in welchem sie die vielen Ideen festhielt und teilweise komplette Passagen per Hand schrieb. Manchmal fanden sich auch Gedichte darunter. Mal waren sie melancholisch, mal witzig, aber oftmals schrieb sie traurige Texte. Sie wusste nicht warum, aber irgendwie machte es ihr mehr Spaß dieser Gefühlwelt Ausdruck zu verleihen als den schönen Momenten. Auch mit Simon war sie ab und an gerne dort, der allerdings etwas sparsamer mit seinem Taschengeld umging. Er versuchte jeden Cent zurückzulegen, um sich immer wieder besseres Equipment kaufen zu können. Mia hingegen hatte den Vorteil, dass ihre Eltern ihr alle Bücher ohne Kostenlimit holten. So konnte sie bei ihrem hohen Lesekonsum das Taschengeld immerhin anderweitig verwenden. Manchmal besserte sie ihr Taschengeld bei ihrem Opa auf, der ein bekannter Steuerberater im Ort war und ihr dann gerne einen großzügigen Stundenlohn zahlte, wenn sie wieder Sortierungen vornahm.
Mia war etwas früher als vereinbart im Café angekommen und nutzte daher die Minuten, um das aktuell in Deutsch behandelte Buch Die Welle weiterzulesen.
„Das mussten wir auch damals lesen.“, hörte sie Ben sagen, der seine Jacke auszog, über den Stuhl hing und sich neben sie setzte. „Ach ja? Und wie fandst du es?“, fragte sie und ärgerte sich über die fehlende Begrüßung seinerseits. Sie würde ihm mit Sicherheit kein Hallo mehr entgegenbringen. Fingen sie eben direkt mit dem Gespräch an. So konnte sie auch früher wieder nach Hause fahren.
„Ich fand es sehr gut. Eines der besten Bücher im Unterricht bisher und allemal interessanter als Emilia Galotti.“
„Ich liebe Emilia Galotti. Es ist ein Stück über Liebe und Politik und weist gelungen die Macht des Adels über das Bürgertum auf. Emilias Tod zeigt, für was ein Mensch bereit ist, um frei zu sein.“
Ben stutzte und sah sie ungläubig an. „Du hast das Buch gelesen? Freiwillig? Das kommt doch erst in der Oberstufe dran.“
„Ich lese so einiges. Aber wir haben uns ja nicht verabredet, um einen Buchclub zu gründen.“, erwiderte sie, legte das Lesezeichen zwischen die entsprechenden Seiten und klappte das Buch zu. Der Kellner kam zu ihrem Tisch und nahm die Bestellung von Ben auf. „Einen Kaffee schwarz bitte. Möchtest du noch was?“, fragte er Mia. Sie schüttelte den Kopf, ihre Tasse war noch halb voll mit der schokoladigen Köstlichkeit.
„Du trinkst schon Kaffee?“, fragte sie erstaunt. „Ja, warum?“
„Ich kenne keinen einzigen Siebzehnjährigen, der Kaffee trinkt.“
„Nicht? Es ist ein großartiges Getränk. Du trinkst also keinen?“
„Nein.“, antwortete sie und machte ein angewidertes Gesicht. „Solltest du dann unbedingt mal tun, aber vielleicht fängst du lieber mit Milchkaffee an. Man braucht etwas Zeit, um sich an den bitteren Geschmack zu gewöhnen.“
„Man kann ja Zucker reintun.“, sagte sie und zuckte die Schultern.
„Damit er so bittersüß wird wie du?“, den Spruch konnte sich Ben nicht verkneifen. Ungläubig riss Mia die Augen auf und starrte ihn an. „Entschuldige, der ist mir so rausgerutscht.“, sagte er sofort. „Schlechte Angewohnheit von dir.“, sagte sie, nachdem sie sich wieder gefasst hatte und die Lippen schürzte. „Kommen wir zum Thema. Meine Kritik.“ Der Kellner rückte näher und servierte die heiße Tasse des schwarzen Gebräus. Ben nippte daran, bevor sie das Gespräch fortführten. „Genau. Du hast geschrieben, dass ich meine Melodie in mir noch nicht gefunden hätte. Das verstehe ich nicht so ganz. Was meinst du genau damit?“
Darum geht es also, dachte Mia und langsam dämmerte ihr, warum Simon einem persönlichen Austausch zwischen den beiden zugestimmt hatte. In der Schule hatte sie ihn darauf angesprochen und er meinte nur „Vertrau mir, das geht deutlich schneller in zehn Minuten live als per Chat.“ Auf ihr Beharren hin zu sagen, worum es genau ging, blieb Simon eisern und sagte kein einziges Wort.
Mia hatte damals lange überlegt, ob sie diesen Satz schreiben sollte. Er war aus ihrer poetischen Ader heraus entstanden und mehr für einen Roman oder Songtext geeignet als für einen Artikel. Am Ende hatte sie sich aber bekanntlich für die Aufnahme dessen entschieden. Es wunderte sie daher nicht sonderlich, das Ben sie ausgerechnet darauf ansprach und auf ein persönliches Treffen bestanden hatte. Simon hatte recht, dass wäre kein Punkt gewesen, den man eben schnell im Chat hätte besprechen können. Zumindest schätzte sie Ben so ein, dass seine Auffassungsgabe nicht die beste war und sie einige Erklärungsansätze machen müsste. Manchmal musste sie einfach Simon bedingungslos vertrauen.
„Naja, es ist mit Melodie in dir vielleicht etwas zu literarisch ausgedrückt, aber im Prinzip kannst du das mit deiner inneren Stimme gleichsetzen.“ Ben zog die Augenbrauen zusammen. Ich habe es geahnt, dachte sich Mia und ignorierte ihr inneres Augenverdrehen und versuchte einen anderen Erklärungsversuch. „Ich meine damit, dass du noch nicht dich selbst gefunden hast. Versteh mich nicht falsch. Ich bin überzeugt davon, dass man sich sein Leben lang irgendwie findet und immer wieder neue Seiten an sich kennenlernt, aber du hast noch nicht das gefunden, was du den Leuten mit deiner Musik erzählen willst.“
„Aber das wird doch in den Songtexten klar, was ich erzählen will.“
Mia schüttelte den Kopf. „Wird es nicht. Die Musik ist nicht schlecht, aber ein Song von euch ging über das morgendliche Haarewaschen. Das mag vielleicht ganz amüsant sein, aber die restlichen Songs waren leider auch nichts Neues. Ich hatte einfach an dem Abend das Gefühl, dass ihr nicht wisst, was ihr für eine Botschaft ihr den Hörer mitgeben wollt.“
„Was meinst du denn mit Botschaft?“, Bens Stirn legte sich in tiefe Falten.
„Na, willst du deinen Zuhörern nichts mitteilen?“
„Doch, natürlich. Dafür schreibe ich ja die Texte.“
„Ja, aber sie sind so generisch. Weißt du, ich kenne dich nicht, aber es kam wenig Emotion an dem Abend rüber und auch wenn die Texte von dir stammen, habe ich nicht das Gefühl, dass sie wirklich das wiedergeben, was du denkst. Das meine ich mit Melodie in dir. Da schlummert etwas, was raus möchte, aber entweder du lässt es nicht zu oder du suchst es noch im Labyrinth deiner Seele.“
„Meine Güte du bist wirklich Autorin.“, sagte er zögerlich lachend. „Was meinst du?“, fragte Mia und schenkte ihm einen grimmigen Blick, wegen seiner für sie wirkenden Belustigung. „Na, das was du eben gesagt hast. Das Labyrinth meiner Seele. So poetisch redet doch kein Mensch.“, antwortete er, klatschte mit der Hand auf den Tisch und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Mia presste genervt die Lippen aufeinander. „Stört dich das etwa?“, säuselte sie und in ihrer Stimme war ein zickiger Unterton zu vernehmen.
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