Vynsu kannte das Gefühl, ihm war es ebenso ergangen, als er von Lohnas Tod erfahren hatte. Das Gefühl, aus dem Leben gerissen worden zu sein und sich selbst von hinten zu sehen, als Unbeteiligter. Diese Leere im Kopf.
»Sie war auf dem Weg zu einer Freundin«, fuhr er fort und stellte den Krug ab, als er ihnen jeweils einen Becher randvoll gefüllt hatte. »So hat man es mir zumindest erzählt. Sie haben sich auf allerlei Festlichkeiten kennengelernt, eine Fürstentochter oder Fürstenschwester, ich weiß es gar nicht genau. Sie schrieben sich oder so, und sie wurde zu einem offiziellen Empfang eingeladen. Also fuhr sie hin, glücklicherweise ohne die Kinder, weil die Kleine einen Schnupfen hatte und meine Mutter sich um die beiden kümmerte…«
Desith starrte ihn mit leicht geöffneten Lippen an, im Kerzenschein stachen die dunklen Sprenkel auf seinem Gesicht noch mehr von seiner blassen Haut hervor. »Moment… sagtest du gerade … sagtest du, ihr habt Kinder?!«
Vynsu senkte den Blick auf die Tischplatte. Verdammt, wieso vergaß er immer, dass Desith die letzten Jahre im Dschungel verbracht hatte und mit nichts im Bilde war? »Ja. Aegir müsste jetzt fünf Winter sein, und Heda wird jetzt bald vier Winter alt.« Er musste lächeln. »Sie sehen dir ähnlich.«
Er hatte sagen wollen, dass sie Lohna ähnlich sahen, aber das stimmte irgendwie nicht. Sie hatten seltsamerweise die gleichen kantigen Züge wie ihr Onkel. Ihm, ihrem Vater, sahen die beiden überhaupt nicht ähnlich.
Desith blinzelte ihn an, irgendwie schien er durch die Neuigkeit wieder mehr in die Wirklichkeit zurückzufinden. Er lehnte sich auf den Tisch und umfasste seinen Becher. »Erzähl mir mehr«, bat er leise, dann beugte er sich vor und schlürfte den Wein ab, ehe er es wagte, den übervollen Becher anzuheben. »Von dem Überfall.«
Vynsu atmete so tief ein, dass sein Lederhemd über der Brust spannte. »Es war grauenhaft, selbst für unsere Verhältnisse. Sie überfielen sie auf der Straße. Zwei Leibwächter und der Kutscher waren mit Pfeilen gespickt, Lohna fand man in der Kutschte mit …« Er musste sich räuspern. »Mit aufgeschlitzter Kehle und gehäutetem Gesicht, nur an ihrem Haar und ihrem Kleid zu erkennen.« Vynsu ließ Desith einen kurzen Moment zeit, das schockierende Bild zu verdauen, ehe er weitersprach. »Der dritte Leibwächter ist bis heute spurlos verschwunden, vermutlich war er mit den Räubern im Bunde oder wurde von ihnen gefangen genommen und als Sklave weiterverkauft.«
»Ich dachte, Melecay ahntet Sklaverei mit dem Tod«, murmelte Desith vor sich hin. Ein Grauen stand vor seinen Augen, als sähe er seine gesichtslose Schwester vor sich.
Vynsu wandte ein: »Das hält die Unterwelt nicht davon ab, mit Menschen zu handeln. Je verbotener etwas ist, je höher die Preise.«
»Wurde sie geschändet?« Desith fragte nicht ängstlich, sondern wütend, wie ein Mann, der auf Rache sann.
Vynsu schüttelte den Kopf. »Nein.«
Desith runzelte die Stirn und sah ihn an. »Das ist seltsam. Das Gesicht haben sie ihr abgezogen, aber sie ließen sie unberührt?«
Es war nicht so, dass sie es Lohna gewünscht hätten, aber Vynsu musste zustimmen. Es wirkte seltsam, denn Lohna war eine Frau, eine sehr attraktive noch hinzu, kein Mann hätte die Gelegenheit verstreichen lassen, sie sich zu eigen zu machen.
Seufzend lehnte sich nun auch Vynsu auf den Tisch und griff nach einer Silbermünze, die aus dem Ledersäckchen gefallen war, das er auf der Karte hatte liegen lassen. Er spielte damit. »Ich glaube nicht, dass es um Raub ging«, gestand er flüsternd. Er spürte Desiths neugierigen Blick auf sich und fuhr ernst fort: »Viele Fürsten waren gegen unsere Heirat, sie hätten mich lieber mit ihren eigenen Töchtern vermählt, und halten nichts von dem Bund mit Elkanasai. Einigen ist langweilig, Desith, viele Männer sehnen sich nach Krieg.«
»Du meinst, es war ein Komplott.«
»Es war Mord«, bestätigte er und schloss die Faust um die Münze, ehe er sie mit einem dumpfen Laut auf den Tisch schlug. »Ich weiß, dass es Mord war.«
Desith schüttelte verwirrt den Kopf. »Hast du einen Verdacht, wer es gewesen sein könnte?«
Das war das Problem. Vynsu rieb sich die Stirn vor Verlegenheit. »Ich hatte viele im Verdacht und ging dem nach, aber diese Wiesel konnten sich alle herauswinden. Ich wollte sie vernichten, ich wollte sie…« Er hielt inne, presste die Lippen aufeinander und suchte Beherrschung. In seinem Herzen flammte wieder das Feuer auf. »Der Großkönig hielt mich auf.«
»Wieso? Liegt ihm nichts an…«
»Was denkst du denn?« Vynsu sah Desith eindringlich in die Augen. »Natürlich ist auch er stink wütend, und er will es sich nicht gefallen lassen, dass jemand seine Pläne durchkreuzt hat. Aber stell dir vor, wir hätten deinem Vater mitgeteilt, dass ein Fürst und kein Räuber deine Schwester ermordete. Dass es ein hinterlistiger Plan gegen die Krone und gegen das Bündnis mit ihm war. Dein Vater hat schon genug getobt. Und Melecay ist sich sicher, dass der Mörder sich irgendwann verrät. Dann wird er den Schuldigen an das Kaiserreich aushändigen, aber bis dahin, versucht er, die Wogen zu glätten, die ich …« Er brach ab und blickte kopfschüttelnd zur Seite.
»Was meinst du damit, die Wogen, die du…?«, hakte Desith nach, es war ihm nicht entgangen.
»Ich hätte da sein müssen«, gestand Vynsu ein, »aber das war ich nicht. Es war meine Schuld. Sie hatte Angst, sie hat mich gewarnt, dass man sie nicht in Carapuhr willkommen hieß, aber ich versicherte ihr, dass ich sie beschützen würde. Doch ich war nie da… ich war immer… bei Onkel oder mit einer Schar Barbaren unterwegs, Raubüberfälle auf verfeindete Fürstentümer, Reisen über das Meer zu unbekannten Orten, noch mehr Kämpfe, Blut und Tod und Weiber… all die Weiber…« Er spürte Desiths wütende Augen, die ihn aufspießten, und schüttelte abermals bedauernd den Kopf, ließ ihn hängen. »Es tut mir leid, Desith, ich hätte sie keinen Augenblick aus den Augen lassen dürfen. Sie war einsam, hat sich nach einer Freundin gesehnt. Wäre ich dort gewesen, hätte ich sie selbst hingebracht.«
»Bist du sicher, dass ihre Freundin nicht Teil des Plans war?«
Vynsu hob ratlos die Schultern. »Natürlich habe ich das geglaubt, aber es war ein offizieller Empfang, zu dem das ganze Land eingeladen wurde. Jeder, der dort gewesen war, wusste, dass auch Lohna anreisen würde. Jeder verdammte Fürst ist verdächtig, Desith. Jeder. Und ich kann sie leider nicht alle auf Verdacht hin töten – so gern ich es vor ein paar Mondzyklen noch getan hätte. Es bringt sie nicht zurück.«
Daraufhin herrschte betretenes Schweigen, doch seltsamerweise kam es Vynsu nicht so vor, als hätte er mit diesem Geständnis eine Kluft zwischen ihnen heraufbeschworen, irgendwie fühlte er sich befreit, seine Schuld ausgesprochen zu haben.
»Sie war nicht hierfür gemacht«, sagte Desith irgendwann. Überrascht fuhr Vynsus Blick zu ihm auf, aber da war keine Wut, keine Verabscheuung, nur Ernüchterung. »Lohna war eine richtige Prinzessin«, er lächelte liebevoll, »Vater hätte sie niemals an dich verheiraten dürfen. Sie war nicht für die raue Welt der Barbaren gemacht. Der Stärkste siegt, aber sie war nicht stark.« Er nahm den Becher wieder auf und hob ihn an die Lippen. »Sie hat Angst gezeigt, das war ihr Todesurteil. Wie ein Schaf unter Wölfen.«
Vynsu dachte darüber nach. Vielleicht stimmte das, aber das änderte nichts an seinem schlechten Gewissen. Er war ein arroganter, selbstsüchtiger Wicht gewesen, der seine Frau nur zu Vorführungszwecken und zur Fortpflanzung beachtet hatte. Er hatte Lohna behandelt wie ein Juwel, wie ein weiterer Schritt zur Krone. Wie ein Objekt, kein Lebewesen. Dass sie ihm genommen wurde, hatte ihm den Boden unter den Füßen fortgerissen. Es war keine Liebe, die ihn an sie band, es war das Versprechen, dass er sich ändern würde. Er musste es tun, damit die Leben ihrer Kinder sicher waren.
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