»Das ist voll langweilig, man spürt ja gar nichts«, maulte Tom beim Blick auf die Geschwindigkeitsanzeige, die auf allen Monitoren leuchtete. Mach 1,8. Schneller als der Schall, und doch gab es keinerlei merkbaren Unterschied zum letzten Flug, als sie nur halb so schnell unterwegs gewesen waren.
Veyron interessierte sich natürlich nicht dafür, er hatte die Augen geschlossen, die Fingerspitzen aneinander gepresst und die Beine ausgestreckt. Tom war nicht sicher, ob sein Pate schlief oder nur meditierte. Ehrlich gesagt wurde er aus Veyron einfach nicht schlau. Auf der einen Seite war er furchtbar großzügig und erlaubte fast alles. Himmel, er hatte Tom zu einem Tatort mitgenommen und war mit ihm nach New York geflogen – gegen den Willen der Polizei! Auf der anderen Seite zeigte er sich jedoch so gehässig und gefühlskalt, wie man es nur sein konnte. Viele Freunde kann er nicht haben , dachte Tom, aber das geschieht ihm auch ganz recht, weil er immer so furchtbar angeben muss .
Plötzlich kann Unruhe im Flugzeug auf.
»Aus dem Weg, aus dem Weg! Ich muss auf die Toilette!«, ertönten laute Rufe aus dem hinteren Teil der Supersonic .
Einige Passagiere hoben die Köpfe, und auch Tom warf einen Blick über die Schulter. Ein riesiger Mann, ein wahrer Koloss aus Fleisch und Muskeln, schob sich durch die engen Sitzreihen nach vorne. Er stieß eine Flugbegleiterin grob zur Seite, als sie ihm ihre Hilfe anbot. Einige der Passagiere hießen ihn lautstark einen Idioten (da musste Tom ihnen recht geben), andere kicherten nur. Warum geht er denn nicht nach hinten? Da sind doch die Klos. Der Idiot rennt in die falsche Richtung, dachte Tom amüsiert, als der Riese eilte an seinem Sitzplatz vorüber kam.
Eine Reihe vor ihnen sprang plötzlich ein weiterer Mann auf. »Oh mein Gott! Meinem Kumpel ist schlecht! Er muss dringend auf die Toilette!«, rief er und folgte dem Riesen nach vorne.
Tom konnte nur staunen. Er wandte sich an Veyron, der tief durchatmete. »Genau wie befürchtet. Ich dachte schon beinahe, ich hätte mich geirrt, als so lange nichts passierte. Die Informationen ließen eigentlich keinen anderen Schluss zu«, seufzte er.
Tom sah ihn verwundert an. »Vielleicht erklären Sie’s auch einem Normalsterblichen?«
Veyron seufzte wieder. »Sind dir nicht die ganzen nervösen Leute aufgefallen, verteilt über die ganze Kabine? Alle zeigten recht ähnliche Verhaltensmuster: ein krampfhaftes Bemühen, nicht aufzufallen. Aber das hat sie letztlich verraten. Weiter hinten ist einer alten Lady ein Becher zu Boden gefallen, und alle in ihrer Nähe haben sich gebückt oder wenigstens hingesehen, bis auf unsere Verdächtigen. Sieh gut zu, mein lieber Tom: Unser Flugzeug wird gerade entführt.«
Tom spähte ungläubig nach vorne. Die beiden Männer drangen brüllend in die First Class ein. Ihnen folgten in geringem Abstand Toms Objekt Nr. 1 und ihr muskulöser Freund. Es war ein beinahe bizarres Schauspiel: Aus dem hinteren Teil des Flugzeugs kamen nun noch mehr Männer und Frauen angelaufen, alle mit wilden, entschlossenen Mienen. Das war wirklich kein Spaß. Um diese Tatsache zu unterstreichen, schlug der Riese mit einer seiner Pranken eine junge Flugbegleiterin nieder, deren Namensschild Tom vorhin direkt vor der Nase gehabt hatte, als sie ihm eine Cola serviert hatte: Mariah Kirkland. Blut spritzte aus ihrer Nase, während sie mit einem Keuchen zu Boden ging. Tom sprang auf, bereit, irgendetwas zu unternehmen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Auch einige der anderen Passagiere waren aufgestanden, sahen sich ratlos um, andere stellten dumme Fragen. Doch niemand konnte sich zum Eingreifen bewegen, alle schauten nur tatenlos zu, wie es geschah. Veyron packte Tom und zog ihn zurück in den Sitz.
»Wir müssen was unternehmen!«, protestierte er, doch Veyron schüttelte den Kopf.
»Aussichtslos, jetzt etwas zu unternehmen. Es sind ganze zehn Mann. In dieser Phase der Entführung könnten wir sehr schnell erschossen werden. Deshalb müssen wir es geschehen lassen und beobachten. Entweder ist das Teil von Flammenschwerts Plan, oder aber er wird selbst etwas unternehmen müssen. In diesem Fall sind diese Entführer sicher nicht zu beneiden. Also ruhig bleiben, alles genau beobachten und im Stillen Pläne schmieden«, erklärte er so gelassen, als sähe er einen Krimi im Fernsehen und wäre gar nicht mittendrin im Geschehen.
Kurz darauf kehrten die Entführer aus der First Class zurück. »Alles sitzen bleiben! Keiner rührt sich! Keiner rührt sich!«
Einige von ihnen trugen Schnellfeuergewehre, andere nur Pistolen, aber alle hatten kugelsichere Weste angelegt. Die Passagiere wurden kleinlaut, nur hier und da gab es einen panischen Ausruf, den die Entführer mit gebellten Befehlen zum Verstummen brachten.
»Werden wir gerade entführt? Wir werden doch nicht gerade wirklich entführt! Das darf doch nicht wahr sein!«, hörte Tom Dimitri aufgebracht rufen. Schnell steckte der junge Blogger sein Tablet in die Tasche, als wäre es ein Schatz, den es zu behüten galt.
»Wo haben die nur die Waffen her? Es gibt doch überall Kontrollen«, jammerte Tom leise, die Ausweglosigkeit der Situation allmählich begreifend.
Veyron blieb noch immer ganz gelassen. »Versteckt im Gepäckraum. Ein deutlicher Hinweis auf die detaillierte Vorbereitung dieser Entführung, zudem ein eindeutiges Indiz, dass dahinter jemand mit sehr viel Geld steckt. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass das alles zu Flammenschwerts finsterem Plan gehört. Die Frage ist nur: Was will er damit bezwecken, und wie passen seine anderen Untaten da hinein?«
Alec schickte alle seine Kämpfer auf ihre Positionen. Der kahl geschorene Ban sollte zusammen mit Carlos und der blutjungen Xenia die hintere Hälfte der Businessclass übernehmen. Xenia war erst neunzehn, dies war ihr erster Einsatz. Aufgrund ihres Alters wirkte sie noch so unbedarft – mit ihrem glatten, jugendlichen Gesicht und der modischen Kurzhaarfrisur – und doch war sie der Sache von Roter Sommer so loyal verschrieben wie kaum jemand anderer. Ohne Zögern würde sie in den Tod gehen, wenn Alec es befahl. Er war stolz auf die junge Kriegerin, denn sie war der Grundstock einer neuen Generation von Gerechtigkeitskämpfern. Said schickte er zusammen mit dem Riesen Claude und Shannon in die vordere Hälfte der Businessclass, um dort die Passagiere in Schach zu halten. Die Irin war eine kaltblütige Killerin, deren Fanatismus aus ihren grünen Augen funkelte und das einzig Lebendige in ihrem eingefallenen, fahlen Gesicht zu sein schien. Diese drei hatten schon an vielen Roter-Sommer-Aktionen teilgenommen und besaßen die meiste Kampferfahrung.
Johan und Otto, der eine ein hochgewachsener Schwede, der andere ein schlaksiger, hakennasiger Deutscher, übernahmen die First Class. Alec und Tamara wollten derweil dem Cockpit einen Besuch abstatten. Bisher war alles ruhig verlaufen; die Passagiere machten keine Dummheiten. Sicherlich fragte der eine oder andere Scheißkerl nach der Bedeutung des Ganzen, doch ein Wink mit der Waffe brachte jedermann sofort zum Schweigen.
Alec fand die Cockpittür verriegelt vor. Die beiden Piloten hatten also mitbekommen, was geschehen war, und sich eingeschlossen. Er konnte nicht einmal seufzen, so sehr nervte ihn das. Er wusste genau, was die beiden da drin taten. Gerade eben stellten sie sicherlich den Transpondercode auf 7500 um, der alle Bodenstationen warnte, dass dieser Flug in die Hand von Entführern gefallen war. Wie furchtbar einfallslos!
Er schnippte mit den Fingern. Tamara eilte zurück in den Crewbereich, wo Otto drei Flugbegleiterinnen in Schach hielt. Eine saß mit blutverschmiertem Gesicht am Boden, die anderen beiden hielten sie in den Armen und versuchten, sie zu trösten. Tamara packte die Nächstbeste, zerrte sie hoch und schubste sie nach vorn zu Alec. Der schnappte die junge Frau, verdrehte ihr grob den rechten Arm und drückte ihr die Pistole hart in den Nacken. Er fragte sie in barschem Ton nach ihrem Namen.
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