Tom setzte sich zu seinem Patenonkel, der in aller Seelenruhe eine Zeitung las. »Nicht viel los«, bemerkte Tom spitz.
Über Veyrons dünne Lippen zuckte ein flüchtiges Lächeln. »Rechts von dir, zwei Reihen weiter vorn«, sagte er, ohne von der Zeitung aufzublicken.
Tom schaute in die entsprechende Richtung. Er fand sieben junge Männer, deren Alter er nicht genau einschätzen konnte. Alle lümmelten mehr oder weniger teilnahmslos in ihren Sitzen, die Gesichter leichenblass, die Augen trüb. Einem troff sogar deutlich sichtbar Speichel aus dem Mund. Sie trugen schlampige Kleidung, falsch geknöpfte Hemden, abgetragene Jacken und total unterschiedliche Socken und Schuhpaare, die nicht zusammenpassten. »Was sind das für Kerle? Vampire vielleicht?«
»Am helllichten Tag? Gebrauche deinen Verstand, Tom! Nein, die Kerle gehören zu einer Punkrockband mit dem drolligen Namen Fiz-Fish-Ass. Sie kamen vor fünf Minuten von der Toilette, wo sie sich mit irgendeinem Zeug vollgedröhnt haben müssen. Zuvor waren sie aufgekratzt und laut, jetzt sind sie wie ausgewechselt. Ich frage mich, wie sie die Drogen bis hierher schmuggeln konnten? Wo hatten sie die versteckt? Sie haben kein Handgepäck, und die Drogenhunde bei der Eingangskontrolle haben nicht angeschlagen. Sehr wahrscheinlich ist es ein vollkommen neuer Stoff«, schlussfolgerte Veyron.
Tom schmunzelte. »Ich dachte, Sie interessieren sich nicht für Kriminalistik?«
Veyron blätterte die Zeitung um. »Nein, aber für Drogen und ihre Auswirkungen auf den menschlichen Verstand. Arme Teufel, diese sieben. John Fizzler und Ira Fisher, die beiden Bandgründer, der eine Leadsänger, der andere Gitarrist. Beide noch keine dreißig, und schon mit eineinhalb Beinen im Grab. Furchtbare Musiker, die nur Misstöne hervorbringen. Zurzeit jedoch recht populär; weil sie anders sind als der ganze Industrie-Pop, der in den Radiostationen rauf und runter gespielt wird. Jetzt sieh nach hinten, die letzte Reihe ganz außen, weit weg von den anderen Passagieren.«
Tom drehte sich um und versuchte, ganz beiläufig zu gucken. Dort saßen eine junge Frau und ein junger Mann nebeneinander. Nun, nicht direkt. Ein kleiner Aktenkoffer stand zwischen ihnen. Der Mann arbeitete pausenlos auf einem kleinen Notebook, die Frau zog gerade ihren Lippenstift nach. Sie war eine Schönheit, langes blondes Haar und ein Körper, dessen Anblick Verzückung auslöste. Tom starrte sie an, er konnte gar nicht anders. Sie entdeckte ihn, erwiderte seinen Blick mit einem kurzen, geschäftlichen Lächeln. Verlegen wandte sich Tom in eine andere Richtung. »Wer ist sie? Sie könnte ein Model sein, so wie sie aussieht«, flüsterte er ehrfurchtsvoll.
Veyron schmunzelte. »Unwahrscheinlich. Sieh dir ihre Kleidung an: strenge Linien, teurer Stoff, und ständig der Blick auf die Uhr. Sie ist ungeduldig, muss wahrscheinlich Termine wahrnehmen. Schau, wie fest sie ihr Telefon in der Hand hält, ein sehr teures Modell aus echtem Silber. Pass auf! Da, schon wieder! Ein neues SMS-Signal. Sie erhält laufend Nachrichten, sicherlich nicht von einem Verehrer oder einer Freundin, dafür interessieren sie die Nachrichten viel zu wenig. Neben ihr sitzt ihr Assistent, der Mann mit der Brille und dem krummen Rücken. Er arbeitet am Notebook, sie gibt ihm Anweisungen. Sie ist Geschäftsfrau, Bankerin sehr wahrscheinlich. Sie fliegt ansonsten mit dem Privatjet. Darum fühlt sie sich hier unwohl, das siehst du an der Art, wie sie sich umsieht und wie nervös sie auf ihrem Platz hin- und herrutscht. Noch etwas ist interessant an ihr, was auch für uns von Bedeutung ist. Fällt es dir auf?«
»Sie sieht aus wie ein Engel, hat sehr lange Beine, bezaubernde Augen und …«
»Sehr gut, zumindest erkennst du schon mal das Offensichtliche. Jetzt pass auf. Sie sieht ständig auf die andere Seite des Raumes. Wenn sie jedoch dorthin schaut, tut sie dies nicht besonders freundlich.«
Tom blickte in jene Richtung, in die Veyron unauffällig mit der linken Zeitungsseite wedelte. Dort entdeckte er einen japanischen Geschäftsmann, der still dasaß und gelangweilt in einem Magazin blätterte.
»Nagamoto«, raunte Tom, als er ihn erkannte.
»Ganz genau. Zwischen Nagamoto und ihr besteht eine Verbindung. Es passt ihr gar nicht, ihn hier wiederzusehen. Ich würde wetten, sie ist eine Vertreterin von Borgin & Bronx, diesem berüchtigten Hedge Fonds. Während du dich mit sinnfreien und nutzlosen Videospielen beschäftigt hast, habe ich unsere Atlantiküberquerung zur Wissensmehrung genutzt. Ich weiß jetzt so ziemlich alles über Nagamoto und Borgin & Bronx.«
Tom ließ diese neuerliche, vor Arroganz triefende Besserwisserei unkommentiert. Verärgert schaute er sich die anderen Passagiere an. »Glauben Sie, Flammenschwert-Joe ist auch hier?«
Veyron schlug die Seite seiner Zeitung um, dann gleich noch einmal und schließlich wieder zurück. Er blieb ihm die Antwort schuldig. Eine Durchsage, dass das Boarding für Flug TC-327 begann, ließ ihn nicht mehr zu Wort kommen. Die Leute standen auf, nahmen ihr Gepäck und reihten sich auf. Lediglich die sieben Punkrocker blieben zitternd auf ihren Plätzen sitzen, entweder, weil sie den Ruf nicht gehört hatten, oder weil ihre Körper nicht so wollten.
»Auf geht’s, Leute. Zeit zum Boarding«, rief Veyron, als er an ihnen vorbeikam.
Zögerlich setzte sich zumindest einer von ihnen, John Fizzler, in Bewegung. Wacklig erhob er sich und schleppte seine dünne, ausgemergelte Gestalt hinüber zur Warteschlange. »Danke, Mann. Geht uns gerade echt beschissen, weißt du«, keuchte er.
Veyron nickte lächelnd und reihte sich vier Leute vor Fizzler ein – so lange brauchte dieser, um die Warteschlange überhaupt zu erreichen. Fizzlers Kumpel folgten schließlich einer nach dem anderen. Veyron beobachtete sie genau, fand es offenbar faszinierend, wie sie ihre müden, kranken Körper durch die Halle schleiften, die einen torkelnd, die anderen wie in Zeitlupe.
»Ich muss meine Analyse korrigieren. Ein paar neue Informationen sind dazugekommen«, raunte er Tom zu.
Der beobachtete die Rocker gar nicht, sondern versuchte, die schöne Bankerin zu erspähen, die irgendwo ganz weit vorne stand.
»Zu ihrer Drogensucht und ihrem erbärmlichen Zustand kommt noch etwas hinzu: Angst, entsetzliche Angst. Auf der Toilette muss etwas geschehen sein, das sie in Todesangst versetzt hat. Vielleicht ist es auch eine Nebenwirkung der Drogen, möglicherweise eine Art Psychopharmakon«, fuhr Veyron fort.
Jetzt schenkte Tom den Rockern doch noch einen weiteren Blick – ungern, denn er wollte viel lieber die schöne Geschäftsfrau anschauen.
»Wer könnte die Macht besitzen, solches Zeug an den Drogenhunden vorbeizuschmuggeln und es diesen Leuten auf der Toilette zuzuspielen? Wenn ich raten dürfte, würde ich auf Flammenschwert-Joe tippen. Ich frage mich nur, was er damit bezwecken will. Was mag wohl sein Plan sein? Bestimmt nichts Gutes«, murmelte Veyron vor sich hin.
Jetzt war Tom aufgeregt. Dieser schreckliche Übeltäter war also hier, mitten unter ihnen? Vielleicht war er sogar einer der Passagiere, ein Dämon, getarnt in der Gestalt eines harmlosen Menschen. Tom musterte jeden Mann und jede Frau in der Warteschlange mit verstohlenen Blicken.
»Natürlich ist es reine Spekulation, beruhend auf einer vagen Vermutung, die wiederum der Annahme entspringt, dass unser dunkler Freund alles versuchen wird, um Nagamoto aufzuhalten und sich das Juwel des Feuers zu schnappen. Ich fürchte, mein Gehirn will sich wieder mal Arbeit sparen, am besten, du vergisst diese Theorie gleich wieder«, fuhr Veyron mit schnellen Worten fort.
Tom konnte es jedoch nicht wieder vergessen. Egal, was Veyron darüber dachte, für Tom machte das alles Sinn, und er wusste auch schon, wie Flammenschwert-Joe zuzuschlagen gedachte: Es würden die Rocker sein. Sie würden Nagamoto töten, und es sähe so aus, als wären die Drogen daran schuld.
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