Seit unserem ersten Kuss hatte ich tausend unbekannte Gefühlsregungen erfahren dürfen – doch keine einzige war annähernd mit meinem momentanen Zustand vergleichbar.
Es war kein Prickeln, keine Geborgenheit, auch kein Adrenalin – es war eine Art Dankbarkeit vermischt mit Glückseligkeit, Erregung, Freude und Wärme, die sich wie ein Lauffeuer in mir ausbreitete.
…
Nach einigen Momenten des Sammelns überkam mich die nüchterne Gewissheit.
Die letzte Stunde – sie war nicht real. Sie konnte nicht real sein!
Spätestens nach dieser letzten Aussage Jans musste mir klar sein, all dies wahrhaftig zu träumen. Niemals hätte ein fremder Mann mir ein Liebesgeständnis gemacht. Besonders nicht mir! Und erst recht nicht kniend vor der Badezimmertür …
Ja, bestimmt lag ich nach meinem ersten Selbstmordversuch im Krankenhaus und fantasierte mir diese wunderbaren Dinge zusammen.
»Liza?«
Ich wandte mich Jans engelsgleichem Gesicht zu. »Ja?«
»Du glaubst mir nicht, oder?«
»Ich glaube, ich träume das alles … Ich denke, du bist nicht real … Du kannst gar nicht real sein. Jemand, der so wundervoll ist, der solch schöne Dinge sagt … den kann es nicht geben.«
»Aber ich bin real.« Er gab mir einen mich schwindelig machenden Kuss. »Glaubst du, diese Situation kann sich solchermaßen gut anfühlen, wenn man sie träumt?«
Ich blinzelte.
»Schließlich weißt du gar nicht, wie es sich anfühlt, hab ich recht?«
…
Eiseskälte legte sich um mich.
Woher …?
»Da kannst du praktisch nicht davon träumen … da dir die nötige Erfahrung dazu fehlt, welche dein Gehirn benötigt, um dir solch einen intensiven Traum zu bescheren.«
…
Woher wusste er über meine Unerfahrenheit Bescheid?
Ehe ich weiterzudenken in der Lage gewesen wäre, tanzten seine Lippen längst wieder über meine und verwandelten sämtliche Kälte in brennende Hitze. »Du fragst dich bestimmt, woher ich das weiß …« Jan setzte seine Liebkosung fort, intensivierte sie, brachte mich dazu, leise aufzuseufzen. Diese Situation war gleichermaßen peinlich wie erregend, berauschend wie beängstigend.
»Ich träume«, brachte ich erstickend hervor. »… Dass du es weißt, ist Beweis genug.«
»Ich weiß es«, erwiderte er raunend und meine Nase mit seiner anstupsend. »Weil es bei einer solch kostbaren zärtlichen Seele wie dir gar nicht anders sein kann … Du strahlst es aus. Man sieht dir deine Reinheit an. Ein jeder halbwegs vernünftige Mann muss dies sehen.«
Er hatte es bemerkt? … Man konnte es sehen?! Wie sahen mich dann –
Seine Lippen und darauffolgend seine auf meine treffende Zunge beraubten mich all meiner sich auftuenden Fragen, um mir stattdessen heftige Gefühlswellen durch meinen zitternden von Jans heißen Händen sorgfältig erforschenden Leib zu schicken und mir darüber hinaus hocherotische wie beschämbare Gedanken zu entfesseln: Wie würde es sich anfühlen, wenn er mir noch näher kam? Wie würde es sein, neben ihm zu liegen … uns zu vereinigen …
Mein Herz setzte ob dieser Überlegungen wie der daraus entstandenen Adrenalinausstöße zum wiederholten Male aus.
»Ich weiß … Ich kenne dich kaum … eines musst du dennoch wissen: Die vergangenen Monate habe ich immerwährend an dich denken müssen … Und ich verstehe bis jetzt nicht, weshalb du so sang- und klanglos verschwandest.«
Die aus meiner Vorstellung hervorgerufene Erregung wurde von hochzüngelnden Schuldgefühlen verdrängt.
»Es tut mir leid. Es tut mir wahnsinnig leid.«
Seine Züge spiegelten Verständnis wider. »Du hattest einen Grund, oder?«
Sollte ich es sagen?
Sollte ich …?
…
Ja …
Ja, ich sollte nicht nur, ich musste!
Jan war immer offen und ehrlich gewesen, hatte sich gegen Panik und Gewitterstürme aufgelehnt, um zu mir zu kommen und mir seine Gefühle zu gestehen.
Wenn ich mich selbst ihm gegenüber verschloss, wie sollte Jan mich je verstehen?
Flüsternd bejahte ich. »Du warst der Grund.«
»Was?!« Aufblitzender Schock seinerseits ließ mich leicht zusammenzucken. »… Aber wieso … Was habe ich dir getan?«
Er dachte tatsächlich, ich hätte das Hotel seinetwegen fluchtartig verlassen?!
Mein Gott!
Was hatte ich da angerichtet …
»Du hast mir nichts getan«, versuchte ich zu beruhigen. »Ich … ich konnte es einfach nicht ertragen, dich noch länger anzusehen, Zeit mit dir zu verbringen, wo ich wusste, dass ich dich nie mehr wiedersehen werde.«
Erkenntnis besänftigte seinen starren Gesichtsausdruck. »Dann hast du …«
Ich kratze irgendeinen nicht vorhandenen Rest Mut zusammen und begann zu erklären: »Ich … ich … nun ja … ich mag dich unwahrscheinlich gerne … Ich wollte dir furchtbar gerne sagen, wie viel du mir bedeutest … aber letztlich traute ich mich nicht mehr.« Unmöglich zu unterdrückende Tränen fingen an, sich in meinen Augen zu bilden. »Ich hatte solche Angst, du würdest mich wegstoßen … Gott, ich hatte solche Panik davor, es erneut zu erleben. Es ist derart oft passiert … erst vergangenen Herbst das letzte Mal … Immer … immer, wenn ich dachte, jemand hege Interesse, wurde ich eines Besseren belehrt … zweimal passierte es mir in der Schulzeit … daraufhin in einem Kurs … dann in der Arbeit.« Schluchzend suchte ich seine klaren strahlenden Augen. »Ich ertrage das nicht mehr … Noch eine Abfuhr … ich hätte es nicht mehr überstanden. Ich konnte einfach nicht mehr … deshalb bin ich ohne Verabschiedung verschwunden … Bitte glaub mir, ich wollte dich nicht verletzen. Wenn ich gewusst hätte –«
Jan drückte mich an sich – und der sich in den letzten Monaten aufgestaute Druck brach über mich herein – wie eine stumme Welle tödliche meinen Brustkorb zerquetschende Gewalt …
Träne um Träne suchte der Schmerz sich einen Weg aus meiner Seele. Träne um Träne lähmten und schüttelten mich Emotionen der Verzweiflung und Trauer.
»Jetzt verstehe ich dich.« Sanft wie der Flügelschlag eines Schmetterlings drang Jans Erwiderung mir ins Ohr. »Jetzt verstehe ich alles. Endlich verstehe ich, wieso du dich einerseits distanziert, andererseits meine Nähe gesucht hast. Jetzt verstehe ich alles.«
Mit einem jeden einzelnen seiner kostbaren Worte nahm meine schwere Last allmählich wieder ab.
»Du musst mir noch mehr erzählen … Du musst mir alles erzählen.« Er beschenkte mich mit einem Kuss. »Und dann erzähle ich dir, was ich durchmachte … diese letzten Monate ohne dich. Diese Monate, in welchen ich dachte, ich wäre dir egal.«
Egal.
Es krampfte mir Herz und Seele zusammen.
Was hatte ich getan?! Was hatte ich Jan zugemutet?!
»Du warst mir nie egal«, beteuerte ich. »Nie.«
»Ja … jetzt weiß ich es.« Mit einer nicht zu beschreibenden Umsichtigkeit zog er mich hoch. »Komm. Reden wir später weiter. Setzen wir uns erst zu Tisch und essen dein gutes Mahl, in Ordnung?«
Nickend tat ich wie verlangt.
Diese Situation erschien mir sekündlich verrückter … und schöner … und romantischer … und realer.
…
Ich sollte seine Traumfrau darstellen? Ich sollte wie Christina sein?
…
Während ich die Eierspeise hinunterwürgte, wurde ich von tausenden Fragen und Zweifeln bombardiert.
Sie überfielen mich, vereinnahmten mich, verwirrten wie beruhigten mich.
Konnte all dies tatsächlich die Wirklichkeit sein?
Träumte ich wahrhaftig nicht? War ich wirklich munter? Saß Jan wahrlich mir gegenüber?
Dieser wunderbare Mann, dessen Sanftheit und Mitgefühl mir in all der Zeit nicht aus dem Sinn gegangen waren, dessen liebreizende Zusprüche mir selbst Monate nach unserem ersten Zusammentreffen Trost gespendet hatten – dieser Mann saß nun vor mir, verspeiste mein Essen und lächelte mich dabei glücklich an.
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