Ich liege regungslos in meinem Bett und starre an die weiße Decke. Die Sonne ist schon aufgegangen, aber wir müssen nicht aufstehen. Heute ist Ausschlafen angesagt und so lasse ich Manuel noch schlummern. Sein leiser und gleichmäßiger Atem ist für mich beruhigend. Ich denke derweil daran, was heute alles nötig ist gemacht zu werden. Es sind noch einige Kartons auszupacken und mein Arbeitszimmer ist auch noch nicht fertig eingeräumt. Gestern Abend sind wir nicht mehr dazu gekommen. Es war sehr spät geworden und wir waren einfach nur zu müde. Also sind wir ins Bett gegangen und sofort eingeschlafen. Leider habe ich nichts geträumt und bin etwas enttäuscht darüber. Immerhin soll das in Erfüllung gehen, wenn man die erste Nacht in einem neuen Heim schläft. Aber was würde es ändern? Ich bin überglücklich, dieses Haus endlich mein Eigen nennen zu dürfen.
„Hast du gut geschlafen?“, fragt Manuel, der seine Augen noch nicht richtig auf bekommt, dreht sich zu mir und legt seinen Arm auf meinen Bauch. Ein wunderschönes Gefühl von Vertrautheit macht sich in mir breit, die Wärme seiner Haut auf meiner zu spüren.
„Ja, wie ein Murmeltier“, lächele ich ihn an.
„Hast du was geträumt?“
„Nein, leider nicht“, sage ich mit einem traurigen Unterton.
„Vielleicht ist es auch besser so.“ Manuel zieht seinen Arm zurück, setzt sich etwas auf und sieht mich von der Seite an.
„Es könnte doch sein, dass das hier alles aufhört“, meine ich leise, obwohl ich sofort merke, wie falsch die Worte klingen.
„Du hast von diesem Haus ständig geträumt und nun ist es unser. Ich denke, es ist ein Puzzlestück in deinem Leben.“ Manuel sagt es sehr nachdenklich und ich kann ihn innerlich nur zustimmen.
„Was sollte das Haus zu meiner Veranlagung beitragen?“, frage ich immer noch so leise, dass man vermuten könnte, ich will nicht, dass es jemand hört, obwohl wir allein sind. Ich denke es zumindest.
„Das kann ich dir nicht sagen. Ich bin fast davon überzeugt, dass deine Visionen und Träume zusammenhängen.“ Manuel wird nun auch merklich leiser. Aber warum, vermag keiner von uns beiden zu sagen.
Er beugt sich zu mir herunter, haucht einen Kuss auf meine Stirn und steht auf. Er dreht sich noch einmal zu mir um, bevor er das Zimmer verlässt und sein Blick sagt mir, dass er genau weiß, dass es nicht vorbei ist.
Ich lasse meinen Kopf in das Kissen fallen und mit geschlossenen Augen haben die Gedanken, wie auf Abruf, freien Lauf.
Ich habe eine Gabe, wenn man das so nennen kann, mit der ich schon seit meinem zehnten Lebensjahr versuche zu leben. Es sind Visionen von bevorstehenden Unfällen und bis heute ist niemand in der Lage mir zu sagen, warum gerade ich diese Bestimmung habe.
Sie kommen am Tag sowie in der Nacht, aber ich bin dabei immer munter. Also Träume sind es wirklich nicht und sie sind so real, als wäre ich stets mitten drin und würde sie direkt mit erleben. Es begann wie gesagt, als ich zehn Jahre alt war. Sie kamen in der Schule und der Freizeit und ich hatte nie irgendeine Vorwarnung. Sie überfielen mich und ich war immer für mehrere Sekunden abwesend und nicht ansprechbar. Es beginnt mit einem Dröhnen im Kopf, dann kommen unbeschreibliche Kopfschmerzen dazu, danach erscheinen Lichtblitze vor meinen Augen und zum Schluss sah oder sehe ich Unfälle und Verletzte, auch tote Menschen waren schon dabei. Am Anfang verstand ich überhaupt nicht damit umzugehen. Ich war jedes Mal vollkommen durcheinander. Erst mit der Zeit begann ich zu begreifen und realisierte, was da mit mir passiert.
Irgendwann kam ich einmal aus der Schule und da lag eine Zeitung bei uns zu Hause auf dem Tisch. Mir stockte der Atem, denn ich sah genau das, was ich am Tag vorher als Vision gesehen habe. Die Bilder schockierten mich fast noch mehr als das dazu Geschriebene. Ab diesem Moment stöberte ich jedes Mal nach einer Vision in Zeitungen, versuchte im Fernseher etwas zu erfahren und belauschte die Gespräche meiner Eltern. Wie sie ja mal so sind, halten sie solche schrecklichen Nachrichten möglichst von ihren Kindern fern.
Mit der Zeit machte es mir immer mehr Angst und ich sprach mit meiner Mutter darüber. Ich nahm allen Mut zusammen und habe mich ihr anvertraut, stieß aber nicht gerade auf Verständnis. Im Gegenteil, sie organisierte sofort eine Therapeutin. Diese unternahm alle möglichen Tests mit mir und am Ende hatte auch sie keine Erklärungen für die Vorfälle, wie sie die Visionen nannte. Es wurde sogar eine Computertomographie von meinem Kopf gemacht, um einen Tumor auszuschließen. Letztendlich wusste kein einziger von den Experten, was in meinem Kopf abgeht. Organisch war aber zum Glück alles in Ordnung, was mir jedoch nicht weiter half.
Von da an sprach ich mit niemandem mehr darüber, sondern verschloss mich und zog mich immer mehr in meine unnatürliche Welt zurück. Ich versuchte, für die Bilder einer Vision, nicht sofort nach Beweisen zu suchen, dass ich richtig lag, aber es gelang mir kaum bis nie. Meine Schuldgefühle stiegen fast ins Unermessliche, weil ich den Betroffenen nicht geholfen habe.
In der Schule war ich indessen schon längst ohne Freunde. Sie dachten, ich wäre verrückt. Ich habe kaum noch etwas mit meinen Schulkameradinnen unternommen, weil ich immer damit rechnen musste, dass ich durch eine Vision kurz wegtreten würde. Die anderen nannten es Anfälle und hatten am Ende mehr Angst davor als ich selbst. Sie verstanden es nicht, damit umzugehen und mir zu helfen, war ja ihrerseits kaum möglich.
Ich habe gelitten und an meinem Leben gezweifelt. Warum wurde mir so eine Last auferlegt? Ich wollte ein ganz normales Kind sein wie alle anderen, aber so wurde ich ungewollt zum Außenseiter. Zum Einzelgänger. Ein bemitleidenswertes Mädchen. Ein Kind was ständig neben sich stand und krank zu scheinen schien. Was natürlich nicht so war, aber das konnte keiner wissen und meine Eltern wollten auch nichts anderes glauben oder akzeptieren. Therapien, ja das war das Ziel. Nur ich allein wusste, dass sie nie helfen würden.
Meine Mutter drang darauf, dass ich ständig Medikamente einnehme, die die Therapeutin mir trotz keiner genauen Diagnose verschrieben hat. Aber als ich mitbekam, dass sie ebenfalls nicht halfen, denn den Unfällen war es egal, was ich schluckte, nahm ich sie nicht mehr. Ich ließ sie unbemerkt verschwinden und ab da ging es mir wesentlich besser. Ich war nicht ständig müde und der Appetit kehrte auch zurück. In der Schule sagte ich dann jedes Mal, es wäre Migräne. Somit konnte ich wenigstens etwas ruhiger leben und musste mich nicht immer wieder rechtfertigen. Ich kann auch nicht sagen, was sich die Lehrer dabei dachten, sie schickten mich einfach nach Hause, wahrscheinlich weil sie mit diesem Problem nichts zu tun haben wollten.
Mit 14 Jahren änderte sich die Lage. Ich hatte in der Nacht eine Vision von einem Busunglück, wobei viele Kinder in Gefahr waren. So ging ich an diesem Morgen nicht in die Schule, sondern zu meiner Therapeutin. Ich hatte zu viel Angst um die Kinder und wollte unbedingt, dass ihnen jemand hilft.
Sie nahm sich Zeit für mich, aber sie schenkte mir auch diesmal keinen Glauben. Sie gab mir etwas zur Beruhigung und forderte mich auf, sofort wieder nach Hause zu gehen. Dort kam ich gerade noch bis zu meinem Bett, fiel ohne mir die Sachen auszuziehen hinein und schlief im selben Moment tief ein. Es war ein richtig gutes Gefühl, alles einfach hinter mir zu lassen. Ich vergaß sogar die Kinder, die sich in großer Gefahr befanden.
Stunden später schüttelte mich meine Mutter unsanft wach. Total verschlafen wusste ich erst gar nicht, wo ich bin. Sie zerrte mich, egal ob ich über meine eigenen Füße stolpere, hinunter in das Wohnzimmer. Dort saß die Therapeutin und ich war augenblicklich putzmunter. Mit Tränen in den Augen erzählte sie mir, dass vor drei Stunden ein Bus, voll besetzt mit Kindern zwischen acht und zehn Jahren, einen Unfall hatte. Zwei Kinder sind dabei gestorben. Sie verlangte von mir, dass ich genau erzähle, was ich in der Vision gesehen habe. Mit etwas Unmut tat ich was sie von mir verlangte und es stellte sich heraus, dass das, was ich in den Bildern wahrgenommen habe, wirklich so passiert ist. Bei einzelnen Details zuckte sie zusammen, weil sie kaum zu ertragen waren. Ich habe es aber so gesehen. Und ich hoffte, dass sie es endlich einsahen und mich verstanden, was ich jedes Mal durchlebte.
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