Marvin grinste und schlich rasch in sein Zimmer zurück, wo er leise die Tür schloss und erst einmal tief durchatmete. Er stellte sich vor Marvin, der noch immer auf der Bettdecke des ungemachten Bettes saß – oder lag? Kann ein Regenbogen sitzen? – und versuchte, die neuen Eindrücke in sich aufzunehmen. Pit beobachtete Marvin aufmerksam bei seinen für einen Regenbogen selten anzuschauenden Verrichtungen und blickte sich natürlich auch im Zimmer um. Als Regenbogen hatte man nicht oft die Gelegenheit, das Zimmer eines kleinen Jungen von innen kennenzulernen.
In stummem Erstaunen betrachtete er die Poster von Zeichentrickhelden, Fußballstars und Rennautos sowie das volle Bücherregal und die Spielsachen, die unordentlich auf dem Boden herumlagen. »Ich wusste nicht, dass Menschen so viele Dinge zum Leben brauchen!«, sagte er dann .
»Naja, brauchen würde ich das nicht direkt nennen« , antwortete Marvin verlegen. »Man hat einfach gewisse Dinge ...«, die man aber einem Regenbogen nicht erklären kann, beendete er seinen Satz im Geiste und zuckte mit den Schultern, anstatt den Satz zu vollenden.
»Und wo wird mein Platz sein?«, fragte Pit, ohne noch einmal auf die Gebrauchsgegenstände eines Siebenjährigen zurückzukommen.
»Tja«, gab Marvin zurück und blickte sich suchend in seinem Zimmer um. Nachdenklich kratzte er sich am Kopf und registrierte dabei, dass seine Haare klatschnass waren, weil der Schnee auf seinen Haaren geschmolzen war. Doch er beachtete es nicht weiter. Er grübelte über schwerwiegendere Probleme nach.
Welcher Platz war wohl angemessen für einen kleinen Regenbogen im Wachstum? Er hatte bisher noch nie vor dieser wichtigen Frage gestanden und fühlte sich leicht überfordert. Schließlich fiel sein Blick auf den Fenstersims, auf dem er einige kleine Kakteen stehen hatte, die ab und zu blühten. Er hielt nicht viel von Blumen oder Pflanzen im Zimmer, die fand er zu uncool, aber die Kakteen faszinierten ihn. Kurzerhand schlich er sich aus dem Zimmer ins Wohnzimmer hinaus und ließ Pit kommentarlos auf seinem Nachttisch zurück, wohin dieser mittlerweile gewandert war.
Schnell huschte Marvin zum großen Eichenschrank und nahm eine kleine flache Glasschale heraus, in der seine Mutter normalerweise Erdnüsse anbot, wenn Gäste da waren. Seine Mutter klapperte in der Küche mit Tellern und Besteck und sang die Weihnachtslieder mit. »Last Christmas, I gave you my heart ...«, trällerte sie gerade. Marvin war froh, dass sie sang, denn so konnte er besser hören, wo sie sich aufhielt.
Mit klopfendem Herzen, als hätte er etwas Verbotenes getan, rannte er auf Socken vom Wohnzimmer ins Badezimmer, füllte einige Tropfen Wasser in die Schale, tapste so schnell er konnte in sein Zimmer zurück und schloss die Tür. Er kam sich vor wie ein Geheimagent und war mächtig stolz, dass er diese gefährliche Mission allein bewältigt hatte. Wenn auch nicht ganz perfekt, denn er hatte einige verdächtige Spuren zwischen Badezimmer und Kinderzimmer hinterlassen.
Aber dank der Sauerei, die er ohnehin schon mit den nassen Schuhen veranstaltet hatte, käme niemand auf die Idee, dass Marvin für einen Regenbogen etwas Wasser geholt hatte. Die Schale stellte er auf den Fenstersims hinter zwei Kakteen, die er extra zusammenrückte, sodass man die Schale nicht sofort sehen konnte. Man würde durch den Vorhang hindurch sowieso nicht auf die Schale achten, aber er wollte vorsichtig sein.
Seine Mutter hatte manchmal ein erstaunlich gutes Gespür für Dinge, die er gerne vor ihr geheim halten wollte. So wie die vielen Schokoriegel, die er immer wieder in seinem Zimmer hortete und die sie zielsicher fand, egal wo er sie aufbewahrte. Dabei sollte er doch nicht so viel essen, er wollte doch kein dickes Kind werden!
Endlich hatte er den Platz genau ausgezirkelt, an dem die Schale stehen sollte. Probeweise trat er einige Schritte zurück und versuchte sich vorzustellen, dass er seine Mutter war. Sähe er die Schale? Zufrieden entschied er sich für ein eindeutiges Nein.
Nachdem diese notwendigen Vorarbeiten erfolgreich abgeschlossen waren, konnte Pit sein neues Zuhause beziehen. Marvin holte Pit von seinem Platz auf dem Nachttisch, wo er auf einem Karl-May-Roman gelegen und neugierig ein leeres Schokoriegelpapier betrachtet hatte und trug ihn vorsichtig zum Fenster, wo er ihn behutsam in die Wasserschale legte.
Zufrieden trat er zurück und betrachtete sein Werk. Pit blickte sich noch etwas skeptisch um, denn er hatte noch nie in einer Glasschale voll Wasser hinter amerikanischen Kakteen gesessen. Aber es war nicht unangenehm. Und die Wassertemperatur war auch wesentlich besser, als die des Schnees, in dem er den ganzen Vormittag zugebracht hatte. Nachdem Pit noch einen Blick aus dem Fenster geworfen und nach der Sonne Ausschau gehalten hatte, war er vollends überzeugt.
Sein neues Domizil war warm, sonnig und feucht, ganz nach seinem Geschmack. Wohlig wälzte er sich ein wenig im lauwarmen Wasser und bestaunte die stacheligen Kakteen, denen er sich höflich vorstellte. Die Kakteen schienen nicht zu antworten, zumindest konnte Marvin nichts hören, doch Pit nickte zufrieden und lehnte sich in seinem neuen Wasserbett zurück.
Marvin wunderte sich nicht darüber, dass hier ein Regenbogen saß, der sich mit seinen Kakteen unterhielt, denn er war sicher, dass er noch mehr erstaunliche Sachen sehen oder hören würde. Damit hatte er sogar mehr als recht, aber das war ihm im Moment natürlich nicht bewusst.
»Essen ist fertig!«, rief es in diesem Augenblick und Marvin und Pit erschraken beinahe zu Tode. Dann blickten sie gegenseitig in ihre erschrockenen Gesichter und mussten herzlich lachen .
»Also, ich gehe dann mal zum Mittagessen«, meinte Marvin, als er sich wieder beruhigt hatte. »Willst du auch etwas haben?«
Pit schüttelte sich. »Nein, danke. Regenbogen essen nichts. Aber lass es dir nur schmecken.« Und genau das tat Marvin dann auch.
»Warum hast du denn so gute Laune?«, wollte der Vater beim Essen wissen.
»Ich habe doch jetzt Ferien!«, strahlte Marvin über das ganze Gesicht. Die Eltern warfen sich einen Blick zu, sagten aber nichts. Es war schließlich normal, wenn sich ein Schulkind über die Weihnachtsferien freute. So bohrten sie nicht weiter nach, sondern freuten sich einfach mit Marvin mit und ließen sich von seiner guten Laune anstecken. Es war schließlich bald Weihnachten, das Fest der Freude! Und der Radio spielte zur Mahlzeit weitere Weihnachtslieder, die während des Essens aber nicht mitgesungen wurden. Versteht sich.

Nachdem Marvin seinen neuen Freund bei sich einquartiert hatte, rückte das Weihnachtsfest, das er sehnlichst herbeigewünscht hatte, plötzlich in den Hintergrund – samt den Geschenken, die er sich erhoffte. Denn einen Regenbogen zu finden war ungleich spannender als ein Fest, das man auch im nächsten Jahr wieder feierte.
Wenn er sonst immer gerne im Schnee gespielt hatte, so wunderten sich seine Eltern, dass der Sohn nunmehr kaum aus seinem Zimmer zu bewegen war. Und für Marvin war die ganze Angelegenheit wahnsinnig aufregend, denn er musste ständig auf der Hut sein, damit niemand ihn mit Pit sprechen sah oder ihn aus Versehen auf dem Fenstersims in seiner kleinen Badewanne entdecken würde. Doch Marvin hatte Glück, niemand bemerkte etwas!
Am Tag vor Weihnachten träumte er ziemlich unruhig und war schon so früh wach, als ob er zur Schule hätte gehen müssen. Gähnend rieb er sich die Augen und überlegte noch im Halbschlaf, ob er schon aufstehen oder sich noch eine Weile im Bett rekeln sollte. Er wollte unbedingt seinen Karl-May-Roman noch zu Ende lesen. Doch das Lesen war etwas in den Hintergrund gerückt, seit er einen Regenbogen zu Gast hatte. Also würde es wohl heute nichts werden mit langem Faulenzen im Bett.
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