Als Internatskind verstand ich mit der Zeit, dass mich Weinen und Widerstand nicht nachhause brachten. Als Internatskind verstand ich auch, dass ich an diesem Ort war, um meine Sprache zu verbessern und wenn ich das geschafft hatte, sind alle stolz und ich darf nachhause. So einfach war das damals in meinem Kopf. Die logische Konsequenz für mich war es dann, zu tun, was von mir erwartet wurde, um dieses Ziel zu erreichen und gleichzeitig mit den Konsequenzen zurechtzukommen. Auch das schleifte ich zu lange in abgewandelter Form mit durch mein Leben. Aber zu diesen Leitplanken komme ich in einem späteren Kapitel noch ausführlicher.
Immer wieder sonntags
Cindy und Bert, die 1973 damit ihren ersten Top-10-Hit in den deutschen Charts landeten, ahnten sicher nicht, dass ich viele Jahre später dabei nicht an die besungenen griechischen Musiker im Sommerurlaub denke, sondern an eine der Langzeitnebenwirkungen meines Internatsaufenthaltes. Denn noch heute kommen in der Tat immer mal wieder sonntags die Erinnerungen in mir hoch. Aber der Reihe nach.
Sicher kennst du den Spruch: Wer Sonntag schon an Montag denkt, hat den ganzen Tag verschenkt. Davon könnte ich ein Lied singen. Die Melodie dazu würden Georg Fenton und Ken Freeman beisteuern. Das sagt dir nichts? Du fragst dich, wer das ist? Der Song heißt Mobile Unit . Ihr Synthesizerwerk ist der Titelsong von Spiegel TV Magazin. Aber wie kommen Cindy und Bert, Spiegel TV und ich zusammen?
Seit 1989 fuhr mir jeden Sonntag die Panik in die Knochen, wenn ich das leere und fast regungslose Gesicht von Stefan Aust im Spiegel TV Trailer sah. Sofort war meine Stimmung im Eimer. Nicht nur Stefan Aust und Spiegel TV ergaben eine dramatische Einheit, die mich das Fürchten lehrte. Fenton und Freeman steuerten unfreiwillig den Soundtrack bei. Und alles stand unter dem Motto: Morgen geht’s zurück ins Internat.
Ich saß im Schneidersitz auf der Couch und genoss einen Trickfilm, als ein Werbeblock eingespielt wurde. Am Ende dieses Blocks kamen noch die Programmhinweise. Damit möglichst viele Zuschauer um 23:30 Uhr einschalteten, bewarb RTL Spiegel TV bereits den halben Sonntag fleißig in ihren Werbeblöcken. Die Kombination aus düsteren Themen, dem kalt blickenden Stefan Aust und der dramatischen Titelmusik war für mich das Schrecklichste überhaupt. Sofort war bei mir Alarmstufe rot.
Für jeden anderen war es ein einfacher Programmhinweis. Für mich aber bedeutete das, dass die Abfahrt zum Internat anstand. Mir waren die Themen egal und auch Stefan Aust. Für mich war der springende Punkt, dass mir der Trailer die unumstößliche Gewissheit vor Augen geführt wurde, dass meine Zeit bei meiner Familie zu Ende ging.
Der musikalische Klassiker von Fenton und Freeman brannte sich über Jahre regelrecht in mein Hirn ein und mit ihm die Verbindung zum schmerzhaften Sonntag. Es wurde zu meinem persönlichen Damoklesschwert. Als ich mit Anfang Dreißig auf einer Party war, wurden alte Synthesizerstücke gespielt und natürlich war Mobile Unit auch dabei. Zu diesem Zeitpunkt kannte ich das Wort triggern noch nicht, aber ich bemerkte schnell wie sich triggern anfühlte, was es macht und auslöst, spürte ich auch ohne diese Kenntnis. Jahrelang hatte ich diesen Song nicht mehr gehört, alle Erinnerungen waren gut verborgen und plötzlich, mitten auf einer Party, war ich wieder das kleine Mädchen, das Angst hatte, von seiner Mutter getrennt zu werden.
Mein Unterbewusstsein konnte lange nicht die Finger von diesem Sonntagsgefühl lassen, das sich sukzessive in mir einnistete, als ich klein war. Nach dieser Party lief mir jedes Mal aufs Neue ein Schauer über den Rücken, wenn ich die Melodie von Mobile Unit hörte und damit an den Schmerz von damals erinnert wurde. Wie eindrucksvoll es sich durch mein Leben zog, Kind der damaligen Zeit zu sein. Wie fest eine Melodie, Gerüche, Geschmäcker oder Orte mit unserer Kindheit verknüpft sind und wie aus dem Nichts wieder in unser Bewusstsein schießen. Mit allen Erinnerungen und Gefühlen der damaligen Zeit.
In Liebe, Deine Josefine
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