Ei, wie selig war Caspar beim Trab und Galopp! Dies Ziehen und Fliehen, dies leichte Getragensein, hinaus und vorwärts, dies sanfte Auf und Ab, das Lebendigsein auf Lebendigem!
Wenn nur nicht die Leute so lästig gewesen wären. Beim ersten Ausritt mit dem Stallmeister wurden sie von einem ganzen Pöbelhaufen verfolgt und selbst gesetzte Bürger blieben stehen und lachten erbittert vor sich hin. »Der versteht’s,« höhnten sie, »der hat sich ein Bett gemacht, so muß man’s anfangen, damit einem warm wird.«
Auch heute war solch ein unbequemes Aufsehen. Der Himmel hatte sich geklärt und die Sonne schien, als sie durch die Engelhardtsgasse ritten. Eine Rotte von Knaben zog hinter ihnen drein und rechts und links wurden die Fenster aufgerissen. Der Stallmeister gab seinem Tier die Sporen und trieb Caspars Pferd mit der Peitsche an. »Man kommt sich ja, parbleu, wie ein Zirkusreiter vor,« rief er zornig.
Sie sprengten bis zum Jakobstor. »He! Holla!« rief da eine Stimme, und aus einer Seitengasse kam, ebenfalls zu Pferde, Herr von Wessenig auf sie zu. Rumpler begrüßte den Offizier und der Rittmeister gesellte sich an Caspars Seite.
»Prächtig, lieber Hauser, prächtig!« rief er mit übertriebener Verwunderung, »wir reiten ja wie ein Indianerhäuptling. Und das alles hat man erst bei den braven Nürnbergern gelernt? Nicht zu glauben.«
Caspar hörte nicht den verfänglichen Unterton der Rede; er blickte den Rittmeister dankbar und geschmeichelt an.
»Aber denk dir, Hauser, was ich heute bekommen habe,« fuhr der Rittmeister fort, den es juckte, mit Caspar einen Spaß zu haben. »Ich hab’ etwas bekommen, was dich höchlichst angeht.«
Caspar machte ein fragendes Gesicht. Vielleicht war es der edel-ruhige Ausdruck seiner Züge, der den Rittmeister zögern ließ. »Ja, ich hab’ etwas bekommen,« wiederholte er dann eigensinnig, »ein Brieflein hab’ ich bekommen.« Er hatte den einfältigen Ton, den die Erwachsenen annehmen, wenn sie mit Kindern scherzen, und der lauernde Blick in seinen Augen besagte etwa: wollen mal sehen, ob er Angst kriegt.
»Ein Brieflein?« entgegnete Caspar, »was steht denn drinnen?«
»Ja,« rief der Rittmeister und lachte knallend, »das möchtest du wohl wissen? Wichtige Sachen stehen drin, wichtige Sachen!«
»Von wem ist es denn?« fragte Caspar, dem das Herz erwartungsvoll zu pochen anfing.
Herr von Wessenig zeigte seine Zähne und stellte sich vor Vergnügen in die Steigbügel. »Nun rate mal,« sagte er, »wir wollen mal sehen, ob du raten kannst. Von wem kann das Brieflein sein?« Er zwinkerte Herrn von Rumpler verständnisinnig zu, indes Caspar den Kopf senkte.
Es quoll auf einmal Traumluft um Caspars Sinne und eine Hoffnung liebkoste ihn, die den kargen Tag verleugnete. Aus ihren Schleiern erhob sich die kummervolle Traumfrau und schwebte still vor den drei Rossen dahin. Jäh blickte er empor und sagte mit zögernden Lippen: »Ist vielleicht von meiner Mutter der Brief?«
Der Rittmeister runzelte ein wenig die Stirn, als ob es ihm bedenklich schiene, den Schabernack zu weit zu treiben, doch entäußerte er sich schnell der ernsten Regung, klopfte Caspar auf die Schulter und rief: »Erraten, Teufelskerl! Erraten! Mehr sag’ ich aber nicht, Freundchen, sonst könnt’ es mir übel bekommen.« Und mit dem letzten Wort setzte er sich fester in den Sattel und sprengte davon.
Eine Viertelstunde später kam Caspar atemlos nach Hause. Daumers saßen schon bei Tisch, sie schauten dem Ankömmling gespannt entgegen und Anna erhob sich unwillkürlich, als Caspar mit schweißbedeckter Stirne neben den Sessel ihres Bruders trat und mit gebrochener Stimme hervorjubelte: »Der Herr Rittmeister hat einen Brief bekommen von meiner Mutter!«
Daumer schüttelte erstaunt den Kopf. Er versuchte Caspar begreiflich zu machen, daß ein Mißverständnis oder eine Täuschung obwalten müsse; Mutter und Schwester unterstützten ihn darin nach Kräften. Es war umsonst. Caspar faltete flehentlich die Hände und bat, Daumer möge mit ihm zu Herrn von Wessenig gehen. Dessen weigerte sich Daumer entschieden, doch als Caspars Aufregung wuchs, erklärte er sich bereit, allein zu Herrn von Wessenig zu gehen. Er aß schnell seinen Teller leer, nahm Hut und Mantel und ging.
Caspar lief zum Fenster und sah ihm nach. Er wollte sich nicht zu Tisch begeben, ehe Daumer wieder da war. Er zerknüllte das Taschentuch in der Hand, rasch atmend starrte er gegen den Himmel und dachte: Wenn ich dich liebhaben soll, Sonne, mach, daß es wahr ist. So wurde es ein Uhr und Daumer kam zurück. Er hatte den Rittmeister zur Rede gestellt und eine heftige Auseinandersetzung mit ihm gehabt. Herr von Wessenig hatte die Sache zuerst humoristisch genommen, damit lief er aber bei Daumer übel ab, dem ohnehin das hämische Gerede, das ihm täglich zugetragen wurde, Verdruß genug erregte. Erst gestern hatte man ihm erzählt, auf einer Assemblee bei der Magistratsrätin Behold habe sich ein angesehener Aristokrat über ihn lustig gemacht als über den Meister somnambuler und magnetischer Geheimkunst, der Caspar Hauser feierlich den Zaubermantel unter die Füße breite, aber statt in den Äther zu entschweben, wie jedermann erwarte, bleibe der gute Caspar gemächlich sitzen und lasse sich ausfüttern.
Solches nagte an Daumer und er hatte es dem Rittmeister ins Gesicht gesagt, daß ihn das scheele Geschwätz der nichtstuenden eleganten Welt gleichgültig lasse. »Bin ich auch eher auf Hilfe und Zustimmung als auf Verteidigung und Abwehr gefaßt gewesen, so weiß ich doch genau, daß das erstarrte Herz von Ihnen und Ihresgleichen nicht um einen Pulsschlag gefühlvoller schlagen wird,« rief er aus. »Das aber kann ich fordern, daß man den Jüngling, der unter meinem Schutz und dem des Herrn Staatsrats steht, wenigstens mit böswilligen Scherzen verschont.«
Sprach’s und ging. Einen Freund ließ er nicht zurück.
Zu Hause ankommend und Caspars stummes Drängen wahrnehmend, sagte er mit mühsamer Milde: »Er hat dich zum Narren gehabt, Caspar. Es ist natürlich kein Wort wahr. Solchen Leuten mußt du auch nicht glauben.«
»O!« machte Caspar voll Schmerz. Dann war er still.
Erst als Daumer sich nach der Mittagsrast zum Aufbruch anschickte, entriß sich Caspar seinem Schweigen und sagte in mattem und verändertem Ton: »Der Herr Rittmeister hat also nicht die Wahrheit gesagt?«
»Nein, er hat gelogen,« versetzte Daumer kurz.
»Das ist schlecht von ihm, sehr schlecht,« sagte Caspar.
Erstaunlich schien ihm zunächst die Tatsache des Lügens, erstaunlicher noch, daß sich ein so großer Herr ihm gegenüber der Lüge schuldig gemacht. Warum hat er das mit dem Brief gesagt, grübelte er, und stundenlang war er damit beschäftigt, sich des Rittmeisters Worte immer wieder von neuem vorzusagen und sich das Gesicht zurückzurufen, in welchem, von ihm nicht gewußt, die Lüge wohnte.
Es war da etwas nicht in Ordnung. Er sann und sann und kam zu keinem Ende. Um sich auf andre Gedanken zu bringen, schlug er die Rechenfibel auf und ging an sein Tagespensum. Als auch dies nichts half, nahm er die Glasharmonika, die ihm eine Dame aus Bamberg geschenkt, und übte sich eine halbe Stunde lang in den simpeln Melodien, die er darauf zu spielen erlernt hatte.
Plötzlich erhob er sich und trat vor den Spiegel. Starr blickte er sein eignes Gesicht an: er wollte sehen, ob Lüge darin sei. Trotz der Beklommenheit, die er dabei empfand, reizte es ihn, einmal selber zu lügen, nur um zu prüfen, wie nachher sein Gesicht aussehen würde. Ängstlich schaute er sich um, blickte dann wieder in den Spiegel und sagte leis: »Es schneit.«
Er hielt das für eine Lüge, weil ja die Sonne schien.
Nichts hatte sich in seinem Gesicht verändert: man konnte also lügen, ohne daß es jemand bemerkte. Er hatte geglaubt, die Sonne würde sich verfinstern oder verstecken, aber sie schien ruhig weiter.
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