„Reisige kosten Geld“, gab Graf Moritz seinem Ausrufer zu verstehen. Der wiederholte es laut und vernehmlich: „Sie schützen euch, ihr habt dafür den Preis zu bezahlen.“
Alle den Markt bevölkernden Bürger fühlten sich angesprochen, immer mehr blieben bei dem Spektakel stehen und hörten ungläubig zu. Jeder wusste, Graf Gerbert von Versfleth starb ohne männlichen Erben; nach seinem Tod kümmerte sich niemand mehr um die Eintreibung des Zehnten, und man hatte sich daran gewöhnt. Es ging ja auch ohne die Edlen. Eine Stimme aus dem Volk rief empört: „Herrgottsakra! Was furzt dieser Puderarsch da herum von Sümpfe trockenlegen? Entwässert haben wir die Marschen, indem wir Kanäle aushoben.“
Vielfaches Raunen unterstützte ihn. Der zornige Ruf: „Schelmenpack!“ brachte die Stimmung zum Überlaufen. „Und zuvor“, meldete sich der Erste erneut, diesmal laut und vernehmlich, „haben wir die Binsenwiesen auf der Brookseite, die heute Weideland sind, mit dem Spaten dem Moor abgerungen. Im Sommer arbeiten wir am Torfstich, dass uns der Schweiß aus den Holzpantinen spritzt… um im Winter unsere Stube heizen zu können. Was haben Eure Zwingburgen damit zu tun, frage ich mich.“
Ein stattlicher Mann, eine abgewetzte Lederschürze vor dem Bauch, trat aus der Menschenmenge vor und blickte dem Grafen kühn ins Gesicht. „Das Holler Recht sicherte unseren Vätern zu, für das Anlegen eines Deiches sind wir für sieben Jahre vom Zehnten entbunden, und der Deich, angelegt für das Abschneiden der Olle vom Weserlauf, wurde aufgeschüttet im Jahr 1200.“
Noch jemand zog die Blicke auf sich: Ein dürrer Mann mit einem hageren Gesicht und ernstem Mund schlug dem Schmied begeistert auf die breite Schulter. „Gut getroffen, Lüder.“
Zu ihm gesellten sich vier seiner Freunde und beklatschten die ehrlichen Worte. Dem Grafen von Oldenburg trieb es das Blut in die Wangen. „Wer bist du - leichtfertig als Fürsprecher deinen Hals zu riskieren?“
„Der Zunftmeister der Steinmetze… Arnold van Veen.“
„Das ist alles Rechtens“, bestätigte Graf Moritz mit heiser klingender Stimme. „Vor sieben Jahren erlosch die Linie der Versflether Grafen, und so lange durftet ihr ohne jede Abgabe euer Vieh mästen.“
Er rieb sich beeindruckt das weiß behaarte Doppelkinn und zog die Brauen zusammen. Über dem Rathaustor war das Wappen der Stedinger in einen Steinquader eingemeißelt. Zwei Figuren aus Stein bewachten das Portal, aber keine Löwen, sondern geflügelte Pranken mit Löwenkopf. Das verriet mehr Kunstverständnis, als er einem Mann dieses Standes zutraute. „Ist das dein Werk?“ Er bedachte den tüchtigen Steinmetz mit einem lobenden Blick. „Ich könnte einen wie dich für den Bau der Burg gebrauchen.“
Arnold van Veen wirkte leicht verlegen, aber er ließ sich auf nichts ein. Graf Moritz mochte das ärgern, auch das brachte ihn nicht aus der Ruhe. „Was sich hier entwickelt hat, zeugt nicht von Armut“, bemerkte er, um das letzte Wort zu behalten, und sein Herold las weiter aus der Bulle: „Dies gilt ab heute für alle unter euch, die bei der Besiedelung einen Wiesenstreifen von 48 Hektar an Ackerland zugeteilt erhielten. Das entspricht nach Hollerrecht einer Hufe: Die Pacht beträgt pro Kopf und Jahr einen Silberpfennig, fällig am Martinstag. Außerdem muss jedes zehnte Schaf alljährlich dem Vogt ausgeliefert werden, ebenso jedes zehnte Tier an Ziegen, Schweinen und Gänsen und jeder zehnte Teil an Honig und Flachs, sowie jeder elfte Scheffel an Hafer, Gerste, Roggen oder Bohnen. Für jedes Füllen, das bis zum Martinstag aufgezogen ist, bezahlt ihr in Zukunft einen Silberpfennig. Kälber sind mit einem halben Pfennig zu versteuern. Das wurde so geregelt, als die ersten Siedler aus Utrecht und Groningen kamen und gilt für ihre Kinder und Kindeskinder. Ferner entging uns nicht: Dort, wo ihr alle Sommer euren Torf abgebaut habt, erstrecken sich heute Fettweiden, auf denen ihr Kühe haltet. Die Abgabe ist überfällig. Für Kühe gilt, heute noch ist auf zehn Tiere eines dem Grafen zu überbringen. Ihr seid verpflichtet, das Viehzeug eigenhändig nach Burg Lechtenberg zu treiben, und zwar bis Sonnenuntergang. Bei Nichtbefolgen droht die Tötung des gesamten Viehbestandes, ebenso der Schweine und des Federviehs. Gebt dem Grafen, was ihm vor Gott gebührt… sonst Gnade euch Gott!“
Der Herold mit der gelbroten Burg auf dem scharlachroten Wappenrock zog einen zierlichen Schusterhammer aus der Gürteltasche und schlug selbstgefällig die Proklamation an das Rathaustor aus Eichenholz. Beklommenes Schweigen trat ein, der Graf und sein Gefolge bestiegen die Pferde und trabten davon, um in Elsfleth ähnlich zu verfahren.
Lüder, der Schmied mit dem immer leicht traurigen Ausdruck um den Mund, ballte eine Faust, während sie über die Brücke der Warft verschwanden. „Das hat gerade gefehlt“, bemerkte er zerknirscht. Seine Augen begegneten dem hohlwangigen Gesicht des Zunftmeisters. Der zog den Ratsherrenmantel um die Kragenrüschen zusammen, als würde ihn frösteln.
Der Schmied schüttelte grimmig den Kopf. „Bei Gott, ist das ein widerwärtiger Mensch! Sie wollen ihren Anteil an dem, was auf dem Feld steht und ziehen im letzten Moment dem Sibo die Knechte ab, damit er mit seiner Familie allein vor der Arbeit steht. Na, wir werden es ihm zeigen; soviel ich weiß, brach vor einer Stunde der Deichgraf und eine Gruppe Freiwilliger mit Sensen auf zum Aumundhof.“
Seine Worte sorgten für neuere Betroffenheit, obwohl er für die Sache warb, keine Frage. Ein kleines Mädchen in grobem Leinenkleid, das sich an ihn drückte, schaute zu ihm auf und zupfte an seiner Schürze. „Ich will auch helfen, Vater… und Ulrike auch, glaube ich.“
Die ältere Schwester war kurz bevor die Reiter kamen zum Waagehaus gelaufen, um bei den Bänken der Knochenhauer eine Grützwurst für den Mittagstisch zu besorgen. Lüders vorwitzige jüngste Tochter erhob sich auf die Zehen und überschaute ungeduldig die sich allmählich zerstreuende Menge. „Rike soll sich beeilen, Vater, ich will mit zum Aumundhof.“ Sie lächelte verschmitzt. „Ich kenne mich an den Huntewiesen nicht aus. An der Brücke wurde mir immer unheimlich, und ich bin umgekehrt.“
Der Schmied strich seiner Kleinen liebevoll über das zu Zöpfen geflochtene dunkle Haar und nickte. „Bist ein gutes Mädchen und denkst mit… wie Rike. Deine Mutter wäre stolz auf dich.“
Keine Minute verging, da erschien forschen Schritts die ältere Schwester und übergab ihm die Grützwurst. Ihre vergnügten Augen erstarrten angesichts der Stimmung am Platz. Ulrike war vor kurzem 16 geworden. Ihr abgetragenes Kleid entsprach dem einer Tochter aus armen Verhältnissen; was für sie nicht zählte. Bei der Geburt der heute fünfjährigen Timke starb ihre Mutter im Kindbett, und sie war seitdem die sorgende Seele in Lüders Heim und versuchte, den kleineren Geschwistern die Mutter zu ersetzen. Sie verzichtete auf manches, was anderen ihres Alters selbstverständlich erschien, weil es an ihr lag, ob das Geld zum Leben reichte. Ein melancholischer Zug um den Mund verriet, wie früh sie erwachsen werden musste; das Aufrichtige in ihren tiefen dunklen Augen konnte es ihr nicht nehmen, und sie trug das wie Mahagoni glänzende Haar bis auf ein paar wirre Locken über der Stirn im Nacken zu einem langen Zopf geflochten.
Ulrike begriff, um was es ging, nahm die kleine Schwester an die Hand und machte sich mit ihr auf den Weg über den Deich an der Olle. Mit ihrem Vater verband sie etwas sehr Tiefes. Manchmal nahm er sich nach dem Gottesdienst ein paar Stunden für sie, und sie hörte ihm gern zu, sprach er über ihre Mutter, die sie nie richtig kennenlernte. Dann saß sie auf dem Schemel der Schmiede und beobachtete ihn, während er geduldig einem Pferd zuredete, bis es ihm brav den Fuß hinhielt, damit er ihm ein neues Hufeisen setzen konnte. Die schönsten Erinnerungen blieben die Abende, die sie in seiner Gesellschaft am Herdfeuer verbrachte, wenn die kleinen Geschwister schliefen. Lüder vermochte wunderbar Geschichten zu erzählen. Es kam vor, dass sie darüber einschlief und er sie ins Bett tragen musste.
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